Besser ein Polizist als ein Dauer-Looser
WIEN / STAATSOPER / WOZZECK
22/03/22 Wozzeck als Prototyp des Arbeits-Prekariats heute? Viele Menschen halten sich mit mehreren Nebenjobs über Wasser, und diese „McJobs“ sind selten dazu angetan, das Selbstwertgefühl entscheidend aufzumöbeln. Das darf natürlich kein Argument oder gar eine Entschuldigung dafür sein, dass Zurücksetzung in Beziehungsfrust und gar in einen Femizid mündet. Aber psychische Fehl-Lenkung kann natürlich auch daher rühren.
Von Reinhard Kriechbaum
Simon Stone, Regisseur der neuen Produktion dess Wozzeck an der Wiener Staatsoper, bringt uns diese Figur in heutiger Wiener Lebensrealität nahe. Wozzeck muss sich fühlen wie im Hamsterrad. Die Bühne mit vier identischen Schauseiten (deren abgewandte immer blitzschnell umgebaut wird), dreht sich in einem fort. Triste Realität – die Schlange von Wartenden im Arbeitsamt etwa – nimmt kein Ende. Wozzeck taumelt, torkelt, schleppt sich von Szene zu Szene. Vergeblich sein Versuch, das Leben – ein lebenswertes Leben – irgendwann einzuholen.
Wer wollte Marie nicht verstehen, die herzlich wenig anfangen kann mit diesem Looser und sich lieber dem Tambourmajor (in dieser Inszenierung in österreichischer Polizistenuniform) hingibt. Sie verkauft sich nicht ganz billig. Bei der ersten anmaßenden Annäherung kriegt der flotte Lover in spe einen Fußtritt an empfindlicher Stelle. Aber dann gilt für Marie: Besser ein Mann in Fixanstellung als der an sich und den Verhältnissen allmählich zerbrechende Wozzeck. Das gibt ihm den Rest. Die Drehbühne besteht jetzt aus vier Schlafzimmern, und der gehörnte, wahnbesessene Wozzek sieht's in jedem der Betten Marie und den Tambourmajor miteinander treiben. Ein gewisses Gewaltpotentzial scheint in ihm angelegt, denn schon nach der Rasierszene am Anfang hat Wozzeck eine solche Erscheinung gehabt: der Hauptmann, blutüberströmt mit durchgeschnittener Kehle.
Ganz zwanglos holt Simon Stone also den Wozzeck aus dem militärischen Umfeld in die Jetztzeit. Er spart nicht mit geradlinigen. Klischeebildern. Die Szenenfolge zwischen Würstelstand, Fitnessstudio und U-Bahnstation lässt manchmal an einen Cartoon denken. Kein überschüssiges Ausstattungsdetail im Bühnenbild von Bob Cousins.
Philippe Jordan und das Staatsopernorchester bereiten die Partitur von Alban Berg struktubewusst und mit feinen Details, zugleich mit unvergleichlichem Wiener Philharmonischen Schmelz auf. Es spricht aus dieser Musik ja nicht nur das epochal Neue, sondern auch die tiefe Verwurzelung in der Tradition alter Formen und Floskeln – genau dieses „vom Einst zum Heute“, auf das Simon Stone in seiner Visualisierung setzt, wirkt also musikalisch gut rückgebunden.
Der analytische Blick des Dirigenten und seine Fähigkeit, auf die besonderen Angebote seiner Instrumentalisten zu hören und sie seiner Interpretation dienlich zu machen, bleiben von diesem Opernabend besonders im Gedächtnis, und wurden vom Premierenpublikum besonders gewürdigt.
Das Geschehen im Orchestergraben stiehlt nicht selten den Sängern die Show. Christian Gerhaher ist Wozzeck. Der intensive Liedgestalter, der abonniert ist auf schattige, leicht depressiv anmutehnde Programme, passt sehr gut für diesen Underdog und stattet ihn mit gediegenen Farben zwischen leisem Aufbegehren und einem eigentlich verzagten Sich-Hineinsteigern in Wahnvorstellungen aus. Das dürfte freilich auf der Bühne im Detail plakativer ausfallen. Anja Kampe ist eine Marie, die mit beiden Beinen im Leben steht, stimmliche Geradlinigkeit und zielgerichtetes Spiel gehen gut zusammen. Sean Panikkar (Tambourmajor), Jörg Schneider (Hauptmann), Dmitry Belosselskiy (Doktor), Josh Lovell (Andres), Thomas Ebenstein (Bass), Christina Boch (Margret) – lauter Rollendebüts an der Staatsoper. Was die Textverständlichkeit anlangt, ist viel Luft nach oben.
www.wiener-staatsoper.at
Bilder: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn