Hundeherzen, Höllenfahrten, Orgelschlachten
REST DER WELT / HOLLAND FESTIVAL 2010
30/06/10 Nicht allen Festivals gelingt der Spagat zwischen publikumswirksamen Events und experimentelleren künstlerischen Handschriften. Das Holland Festival war und ist da Vorreiter, hier gibt es innerhalb von drei Wochen alles, von den großen Klassikern bis zu exklusiven Entdeckungen.REST DER WELT / HOLLAND FESTIVAL 2010
30/06/10 Nicht allen Festivals gelingt der Spagat zwischen publikumswirksamen Events und experimentelleren künstlerischen Handschriften. Das Holland Festival war und ist da Vorreiter, hier gibt es innerhalb von drei Wochen alles, von den großen Klassikern bis zu exklusiven Entdeckungen.
Von Jörn Florian Fuchs
Auch bei den Spielorten ist das ganze Spektrum vertreten, vom pompösen Plüschtheater über futuristische Konzertsäle bis hin zu ehemaligen Gasometern. Pierre Audi, der heuer bei den Salzburger Festspielen die Uraufführung von Wolfgang Rihms "Dionysos" inszeniert (Premiere: 27. Juli), ist Intendant des Holland Festival.
Für die eher kulinarisch Veranlagten gab es heuer einen vertanzten „Pygmalion“ (von Rameau) der Starchoreographin Trisha Brown, René Jacobs widmete sich einer barocken Rarität von Conti und Peter Stein schickte seine gerade fleißig tourenden, zwölfstündigen Dostojewski-Dämonen vorbei.
Im Muziektheater am Waterlooplein herrschte dagegen ein ganz anderer Geist. In Alexander Raskatovs Oper „A Dog’s Heart“ pflanzt ein ziemlich heutig wirkender Wissenschaftler dem Straßenköter Sharik menschliche Organe ein. Dieser nennt sich nun Sharikov, jagt zwar weiterhin gerne Katzen, aber auch auf menschliche Revier- bzw. Regimefeinde hat er es abgesehen. Raskatovs kurzatmige, sehr gestische Musik kam beim Publikum ebenso gut an wie die turbulente Inszenierung Simon McBurneys. Die Textvorlage stammt von Mikhail Bulgakov, der mit seinem „Hundeherz“ ins Gehege der Zensur geriet. Auch Dmitri Schostakowitsch wurde Jahrzehnte lang vom Staat verfolgt. In seiner satirischen Oper „Die Nase“ verlieh er eben jenem Riechorgan aufmüpfige Züge, was die Machthaber als konterrevolutionär einstuften.
Der südafrikanische Künstler und Regisseur William Kentridge zeigte in Amsterdam auf dem Gelände einer ehemaligen Gasfabrik nun „Telegrams from the Nose“, es sind filmische Botschaften, Fragmente, Symbole, Zeichen, die in die Entstehungszeit der Oper um 1930 führen. Dazu schuf der Franzose François Sarhan eine mal düstere, mal gleißende helle, grelle Musik. Sarhan verwendet die selten zu hörende Strohvioline, sie wurde 1899 von einem deutschen Ingenieur patentiert und erweitert die Seiten des Streichinstruments durch eine Art Trompete. Dieser instrumentale Zwitter passte ideal zur Atmosphäre dieser multimedialen Botschaften aus 30ern.
Und noch ein weiteres Instrument harrte seiner Entdeckung. Es trägt den Namen Orgel und kommt besonders gern bei geistlicher Musik zum Einsatz. Das was der britische Komponist mit persischem Ursprung Kaikhosru Sorabji mit den Tasten und Pedalen alles anstellte, gehört zum Ungewöhnlichsten und Unmöglichsten überhaupt. Sorabji war eigentlich Musikkritiker und schrieb quasi nebenbei diffizilste Stücke für Klavier, Orgel, aber auch für großes Orchester. Das meiste wurde bisher noch nicht aufgeführt, einfach weil manche spieltechnischen Anweisungen nicht umsetzbar sind und da manche Werke die Grenzen des Konzertbetriebs völlig sprengen. Im Amsterdamer Orgelpark interpretierte der Brite Kevin Bowyer jetzt erstmals komplett die zweite Orgelsymphonie Sorabjis, ein Koloss von unfassbaren zehn Stunden Nettospielzeit. Allein der zweite von drei Sätzen dauert fast fünf Stunden, es sind 49 Variationen eines monumentalen Themas, wobei neben ruhigen Kantilenen, fein ausgehörten Kanons oder komplexester Kontrapunktik rabiate Cluster und eine fast absurde Fülle gegenläufiger Figuren stehen. Das verwendete Material ist mit äußerster Konsequenz verarbeitet, keinen Takt lang erlaubt sich Sorabji dramaturgischen Stillstand. Bowyer stemmte diesen gewaltig-gewalttätigen Koloss mit schier übermenschlichem Einsatz, wobei immer wieder ein Kampf zwischen den aufgeschriebenen Noten und dem tatsächlich Spielbaren hautnah zu erleben war.
Demgegenüber wirkte der nicht einmal zweistündige Opernabend mit zwei Kurzopern von Harrison Birtwistle fast wie ein Espresso nach gutem, schwerem Essen. In „Semper Dowland, semper dolens“ setzte Birtwistle einige Vokal- und Instrumentalstücke John Dowlands in neue, sehr sanfte Töne. Im zweiten Stück „The Corridor“ geht es etwas saftiger zu: Librettist David Harsent hat dem Orpheus-Mythos einige neue Aspekte abgetrotzt, nach Orpheus’ fatalem Rück-Blick entwickelt sich ein scharf geschnittenes Drama, das den letzten gemeinsamen Augenblick der beiden Liebenden thematisiert. Hoffung, Wut, Vorwürfe, Zerwürfnisse wechseln einander ab, Birtwistle erfindet zu alldem wunderbare Harfentöne, aber auch kammermusikalische Bruchstücke, Fragmente eines großen Ganzen, vielleicht einer unsterblichen Liebe. Und Holland-Festival-Chef Pierre Audi setzt das Geschehen in intensive Bilder voller Licht und Schatten und Unterweltsnebel, im eigens für dieses Projekt umgebauten Muziekgebouw.