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Wenn sich die Zeit zusammenklumpt wie Pech

LITERATURHAUS / DIAKONIE / LESUNG SEIDENAUER

03/06/11 Weniger die ästhetische Qualität eines Textes stand am Dienstag (31.5.) im Literaturhaus im Fokus, als vielmehr der Umstand, dass Literatur auch wesentlich an einer gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung partizipiert: Gudrun Seidenauer las aus ihrem Roman „Aufgetrennte Tage“.

Von Harald Gschwandtner

Schon zwei Jahre vor Arno Geigers aktuellem Roman „Der alte König in seinem Exil“ hat die Salzburger Autorin Gudrun Seidenauer das gesellschaftlich hoch brisante Thema des Umgangs mit dementen Angehörigen behandelt. In ihrem 2009 im Residenz Verlag erschienenen Roman „Aufgetrennte Tage“ schildert sie eine Mutter-Tochter-Beziehung im Zeichen einer diese Verbindung deutlich verändernden Erkrankung: ein Porträt zweier Frauen, die ihre Verwandtschaft nicht davor bewahrt, sich fremd zu sein.

Der an Demenz erkrankten Marianne kommt nach dem Tod ihres Mannes, an dem sie womöglich Mitschuld trägt, zusehends die Welt abhanden. Ihre subjektive „Small World“, die Martin Suter in seinem gleichnamigen Roman schildert, scheint sich von der Wirklichkeit ihrer Umgebung immer mehr zu entfernen. Anker bieten ihr Vorstellungen von Vergangenheit und Ordnung: „Um sieben ist Österreich-Bild. Sie streckt die Beine aus, gut ist das. Jetzt sitzt sie da, wo er immer gesessen ist. Jetzt ist Österreich-Bild. Jetzt kann ihr gar nichts mehr passieren.“

Sie beginnt Zettel zu schreiben, die wichtige Fakten ihrer Gegenwart und Vergangenheit enthalten – etwa das Sterbedatum ihres Mannes. Außerdem finden sich auf diesen Merkhilfen Phrasen, die die gesellschaftliche Interaktion flüssig und unproblematisch erhalten sollen: „Danke, den Umständen entsprechend“, kann sie da jederzeit nachlesen.

Darin verdeutlicht sich nicht nur die Scheinheiligkeit einer sozialen ‚Wie geht’s?‘-Praxis, sondern eben auch die spezifisch sprachliche Dimension einer Demenzerkrankung: Es wäre ganz allgemein höchst interessant, einmal das Verhältnis von Demenz, Sprache und Literatur genauer zu fassen. Dabei ließe sich etwa feststellen, dass Begriffe wie „Sprachverlust“, „Erinnerung“ oder „Biographiearbeit“ sowohl im pathologischen als auch im künstlerischen Bereich ihren Platz haben. Das berührt direkt das Problem der fehlenden Vermittelbarkeit eines ‚dementen Erlebens‘ - oder wie es in „Aufgetrennte Tage“ aus der Sicht Mariannes heißt: „Was wissen die mit ihren Ratschlägen, mit ihren Tabletten, mit ihren Zetteln, mit ihren Zahlen. Was wissen die, wie es ist, wenn sich die Zeit im Kopf zusammenklumpt wie Pech.“

Sie habe versucht, so Gudrun Seidenauer, sich „in die frühe Phase einer Demenzerkrankung einzufühlen“ und die Wahrnehmung einer erkrankten Person literarisch auszugestalten. Dabei seien neben eigenen biografischen Erfahrungen auch Ergebnisse einer ‚Feldforschung‘ in Geriatriestationen in die Gestaltung eingeflossen. In den sich abwechselnden Perspektiven von Mutter und Tochter werden die beiden Seiten eines plötzlichen Konfrontiertseins deutlich. „Ich hatte mich eingerichtet mit meinen Eltern, unser Kontakt folgte gewissen Ritualen, denen ich mich zumeist ohne größere Aufregung und mit akzeptabler Mühe, manchmal auch mit lauer Liebe unterzog, und ich hatte seit Langem auf die Abstände geachtet“, heißt es da etwa von Seiten der Tochter.

Dass die Literarisierung dieses sehr sensiblen Themas erzähltechnisch doch eher im Konventionellen bleibt, ja manches Mal etwas sehr gefühlsbetont wirkt, kann dem Text kaum angelastet werden. Denn „Aufgetrennte Tage“ weist über das im engeren Sinne literarische Publikum hinaus, will teilhaben an einer breiteren gesellschaftlichen Bewussteinsbildung.

Im Anschluss an die Lesung folgte eine Podiumsdiskussion, die nun weniger auf den literarischen Text als auf die soziale Relevanz der Thematik abzielte: eine interessante Zusammenschau, die vom Bericht einer Angehörigen über Versuche einer Definition von Demenz bis zu philosophischen Reflexionen anhand von Theoremen französischer Existenzialisten reichte.

Was der informative, in Kooperation mit dem Diakoniewerk Salzburg gestaltete Abend jedenfalls zeigte, ist der Umstand, dass diese Erkrankung wie kaum eine andere Fragen nach neuen Sozialformen der Pflege, nach probaten Möglichkeiten der Betreuung angesichts der zunehmenden Sistierung traditioneller Familienkonzepte aufwirft. Eine Entwicklung, auf die auch die Literatur ihre Antworten zu geben haben wird.

Bild: www.seidenauer.net

 

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