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Der Linsenschleifer und seine Aurora

LESEPROBE / LIKO / BERGERS KUGEL

26/06/30 Berger, ein Linsenschleifer ohne Frau, ­dafür begabt mit dem inneren Auge, arbeitet in seiner Werkstatt hinter dem Salzburger Bahnhof an der Kugellinse eines astronomischen Fernrohrs. – Eine Leseprobe aus „Bergers Kugel“, dem ersten Buch von dem Salzburger Liko alias Wolfgang Seidelbast. Sein Talent zum Schreiben entdeckte er auf einem Schreibseminar für Arbeitslose.

Von Liko

106(…) „Junger Mann“, begann er, „ich kenne Sie zwar nicht, aber vielleicht sind Sie mir ja geschickt, damit ich meine Geschichte endlich loswerde. Ja“, fügte er beinah feierlich hinzu, „ich spüre, es ist an der Zeit.“ Er tastete über den Tisch nach mir, ich streckte ihm unwillkürlich meine Hand hin, er nahm sie wie zur Bekräftigung. Er erzählte tatsächlich flüssig und durchdacht, als hätte er sich lange vorbereitet:

„Es war vor einem Jahrzehnt, da sah es hier aus wie noch immer. Schmuddelige Eisenbahnerwohnblocks, lieblos geflickte Straßen. Ich wohnte schon damals hier im Erdgeschoss und war gezwungen, eine Linsenschleiferei zu betreiben, da ich vom Vater her Schulden hatte. Der Gasthof ‚Grüner Wald’ gegenüber war zugesperrt, in seinen Räumen vergab das Sozialamt Pensionszimmer. Morgens gingen scharenweise Schulkinder mit großen gelben Ranzen an meinem Werkstattfenster vorbei die Ischlerbahnstraße hinunter. Ich hab ja den Krieg nicht erlebt, aber aus den Berichten weiß ich, dass zwei Häuser weiter hundertzwanzig Kinder bei einem Bombenangriff getötet wurden. Es gibt eine Gedenktafel.“

Er ließ meine Hand los, lehnte sich zurück und fixierte mich blicklos.

„Ich frage Sie jetzt, welcher Theorie von der Wahrheit hängen Sie an? Sind sie Anhänger der Konsenstheorie Wahrheit entsteht im Konsens mit anderen – oder glauben Sie, wie ich, an die Evidenztheorie: Wahrheit ist unmittelbar wie durch einen plötzlichen Lichtstrahl zugänglich?“

Er wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern fuhr gleich fort: „Eines Mittags, man hat am Vortag beim Haus gegenüber Sperrmüll auf die Straße gestellt, schau ich bei der Arbeit aus dem Fenster und werde von einem gleißenden Lichtstrahl ins Auge getroffen. Nach einem Moment der Blendung seh ich ein Mädchen, schwarzhaarig, etwa achtzehn Jahre, rote Stöckelschuhe. Sie hält ein großes gerahmtes Bild, das sie offenbar gerade aus dem Sperrmüll gezogen hat, dabei hat das Glas reflektiert. Mit heftigem Herzklopfen springe ich auf. Das Mädchen starrt das Bild fasziniert an. Ich kenne es, es ist ein Filmposter aus ‚Frühstück bei Tiffany’: Audrey Hepburn im kleinen Schwarzen, mit dunkler Sonnenbrille und funkelndem Diamantencollier, wie sie auf der Fifth Avenue in die Schaufensterauslage schaut. Das Mädchen klemmt den Fund unter den Arm und geht eilig, mit den Stöckelschuhen klackend, in Richtung Bahnhof. Ich werfe die Arbeitsschürze ab, renne hinaus, will ihr hinterher, doch sie ist weg.

An diesem Nachmittag war ich merkwürdig unruhig und verschliff mich einige Male. Die Nacht lag ich lange wach. Und da passierte es. Im Morgengrauen, so etwa um vier, stehe ich am Fenster, da kommt sie aus Richtung Bahnhof, meine Aurora, ich hör im Voraus schon das Klacken. Sie verschwindet im Eingang vom ‚Grünen Wald’. Ich denke mir: Was macht sie dort? Ist sie eine von den Bordsteinschwalben von der Elisabethstraße? Ich warte eine Weile, dann lege ich mich wieder schlafen.

Mittags sitze ich wieder an meinem Schleifapparat. Richtig: pünktlich kommt sie aus dem ‚Grünen Wald’. An der Stelle, wo sie das Bild gefunden hat, bleibt sie kurz stehen. Natürlich ist nichts mehr da, der Sperrmüll ist abgeholt. Merkwürdigerweise trifft mich in diesem Augenblick wieder ein Strahl, etwas weniger stark. Als ich wieder schauen kann, ist sie weg. Eine natürliche Erklärung gab es nicht. Auch die Sonne schien nicht.

Die nächsten Tage blieb meine Aurora aus, aber meine Unruhe blieb. Ich konnte weiterhin kaum mehr schlafen. (…)

Ich begann also mit der Arbeit, und zwar immer im Morgengrauen, wegen meiner Aurora. Außer der Lupenbrille brauchte ich eine starke Lampe, die ein magentarotes Licht abgab. Ich kam gut voran, und nach drei Tagen hatte ich die erste Linse fertig. Es war ein Nachmittag, eben waren die Schulkinder mit ihren gelb strahlenden Ranzen am Fenster vorbeigezogen, da leuchtet die Linse plötzlich auf. Was glauben Sie, was ich drin gesehen habe? Ich habe sie gesehen! Meine Aurora! In Farbe, wie im Kino!

Sie kniet vor dem Foto von Audrey Hepburn. Ihr Gesicht spiegelt schwere, traurige Gefühle. Aber je länger sie sich in das Plakat versenkt, desto leichter scheint ihr ums Herz zu werden. Oder anders gesagt: Sie füllt ihre Schwere, ihre Traurigkeit in eine Opferschale und hält sie dem Antlitz der Hepburn entgegen. Sternenstaubartige Partikel steigen millionenfach auf, eine Milchstraße von Gefühlen, und verwandeln sich in das Glitzern der Diamanten, das noch intensiver wird. Ich habe diese Linse später Fühllinse genannt. Sie verstärkte sozusagen, was mein inneres Auge sah. Inneres Auge, das ist natürlich nur ein schwacher Ausdruck für das ungeheuerlichste Organ des Universums –“ (…)

„Fast jeden Nachmittag konnte ich von nun an sehen, wie meine Rubina – so war ihr wirklicher Name – ihre Schwere und Traurigkeit bei Audrey Hepburn ablud. Aber das Ungeheuerliche kommt erst. Ich hatte die zweite Linse gerade fertig und machte mich im nächsten Morgengrauen an die Drei, da hörte ich draußen auf der Straße das Klacken, das Rubina ankündigte. Vor dem ‚Grünen Wald’ holte sie die Schlüssel aus der Tasche, sperrte auf und verschwand im Haus. Soweit alles, wie gehabt.

Aber jetzt wurde es in Linse zwei lebendig! Das Stiegenhaus, gut ausgeleuchtet. Rubina, wie sie knarrend in den ersten Stock steigt. An einer Tür mit dem Namen ,Baum‘ bleibt sie stehen. Wie selbstverständlich tritt sie ein. Macht ein funzeliges Licht an. Ein Bett, in dem jemand unter der Decke liegt. Man hört Schnarchen. Rubina kickt ihre Schuhe weg. Schiebt das kleine Schwarze über die Brüste, streift das Höschen ab. (…)

Ich schreckte hoch, Linse Nummer zwei regte sich wieder. Baum, ein Riesenkerl im schmutzigen Trainingsanzug, steht an der Kochplatte und bereitet Kaffee. Bringt Rubina ein Häferl ans Bett. Holt sich einen Kuss ab, ekelhaft! Sie trinkt gemütlich. Liegt noch eine Weile. Steht auf. Macht am Waschbecken Katzenwäsche. Zieht sich an. Klaubt einen 100-Euro-Schein aus der Tasche. Baum streicht ihn zufrieden ein. Noch ein Kuss. Rubina geht. Und wenig später sehe ich, wie sie leibhaftig aus dem Haus kommt.

Was hat Rubina zu diesem Kerl getrieben? Leider weiß ich es bis ins letzte Detail genau. Die Antwort hat mir Linse Nummer drei gegeben. Sie zeigte die Kindheit des Mädchens, ich nannte sie die Kindheitslinse.“

Liko als Wolfgang Seidelbast 1959 in Salzburg geboren, war nach mehreren abgebrochenen Studien u. a. Kirchenmaler, Kindergärtner, Altenpfleger und Landvermesser. Sein Talent zum Schreiben entdeckte er auf einem Schreibseminar für Arbeitslose. „Bergers Kugel“ ist sein erstes Buch.

Liko: Bergers Kugel. Erzählungen. Verlag Müry Salzmann, Salzburg 2013. € 19.-
http://www.muerysalzmann.at/shop/shop_artikeldetails.asp?agnr=174

Morgen Donnerstag (27.6.) liest Liko um 19.30 Uhr in der Rupertusbuchhandlung.

 

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