Linz liegt am Meer
LESEPROBE
12/04/13 Wann wird schon irgendwo in Österreich ein Opernhaus ganz neu gebaut? Vor ein paar Jahren in Graz das „Mumuth“ der Musikuniversität, im Vorjahr das Winter-Festspielhaus in Erl. Eh erstaunlich. Und nun das neue Musiktheater in Linz. Dessen Eröffnung gestern Donnerstag (11.4.) war Anlass für ein Buch: „Am Volksgarten 1. Musiktheater im Aufbruch“, erschienen im Verlag Anton Pustet. Steht die große Opern-Flutwelle ins Haus? Norbert Trawöger hat seinen Beitrag jedenfalls „Linz liegt am Meer“ betitelt. Hier eine Leseprobe.
Von Norbert Trawöger
Linz liegt an der Donau. Böhmen am Meer und dies nicht erst seit Ingeborg Bachmann. Vor ihr hat schon William Shakespeare die nördliche Nachbargegend am Meer situiert. Gütersloh liegt in Nordrhein-Westfalen, Le Roncole in der italienischen Provinz Parma und Großraming im Ennstal. Den Gütersloher Hans Werner Henze, einen der produktivsten Opernkomponisten des letzten Jahrhunderts, zog es bald nach Italien. Ob das Meer der Grund dafür war, kann ich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Giuseppe Verdis Geburtsort Le Roncole findet sich auch nicht unmittelbar am offenen Mittelmeer. Und das Meer, das Großraming, in dem Balduin Sulzer vor gut achtzig Jahren das Licht der Welt erblickte, am nächsten ist, ist das Steinerne.
Diese Aufzählung legt jetzt einen Vergleich der drei Opernkomponisten nahe, aber nichts liegt mir ferner. Es will vorerst untersucht werden, ob Meeresnähe die Entstehung von Opern begünstigt oder gar bedingt? Die Antwort ist leicht: Die Rolle der Adria, um ein beliebiges, aber zumindest ans Opernland Italien grenzendes Salzgewässer heranzuziehen, wirkt auf das dortige Opernschaffen in etwa so wie der Mühlviertler Granit auf das heimische. Die Wirkung ist eine unermessliche, ganz und gar im Wortsinn. Unermesslich und unverlässlich wie das Wetter. Doch gibt es eine Art von Witterung, die künstlerisches Schaffen, in welcher Ausprägung auch immer, begünstigt: „Wo nichts gespielt wird, braucht man nicht komponieren“, sagt Peter Androsch.
Wo gespielt wird, werden also Komponistinnen und Komponisten gebraucht. Klangerschaffende brauchen Erklingende und vice versa. Gespielt wird in unserem Landstrich zweifelsohne sehr viel. Komponiert auch nicht wenig. Für eine musikalische Grundversorgung sorgt ein ungeheuer dicht gespanntes Klangnetz von Musikschulen und Blasmusiken in unserem Land.
Es braucht also nicht unbedingt ein Meer, um ein Netz zu spannen. Gibt es gar eine oberösterreichische »Musique d’ameublement« oder eine landesübliche Tendenz zu einer bestimmten »Action théâtrale«, der die heimischen Opernschaffenden traditionsbewusst zu gehorchen wissen? Vor allem gibt es sie, die Menschen in unserem Land, die Musik erschaffen, die Bilder malen, Bücher schreiben oder Opern komponieren. Nichts ist typischer für unser Bundesland, als dass es sie einfach gibt. Wo komponiert wird, wird gespielt. Wo gespielt wird, muss es Spielplätze geben, Orte, an denen das Unreale real, das Ungreifbare greifbar werden kann.
Es gibt also die Gegenden in unserem Land, die am Meer liegen. Genauso wie Böhmen am Meer liegt. Auch wenn das „Theatralische, Übertreibende, Überhöhende nicht zur oberösterreichischen Mentalität“ gehört, wie Peter Androsch meint: „Das Praktische, Angewandte ist hier die Stärke.“ Vielleicht bietet just das Praktische, Angewandte ein kleines Meer, in dem das Undenkbare stattfinden kann. 2001 wurde Androschs Oper Der Zeichner im Schnee, nach einem Libretto von Franz Blaas, im Landestheater uraufgeführt, 2005 folgte Schwarze Erde – Zwölf Gesänge nach Stifter (Text von Silke Dörner) und zwei Jahre später stand seine Operette criminelle Die listige Witwe auf dem Spielplan. Und im neuen Haus erwartet uns seine Opernmaschine, die Androsch gemeinsam mit Philipp und Roland Olbeter erschafft. Die Opernmaschine ist ein „Theater der Dinge, der Maschinen, das in großen assoziativen Bögen von allem und nichts handelt.“
Der oberösterreichischen Mentalität kann mit Sicherheit nur eines nachgesagt werden, sie ist oberösterreichisch. Zum Beispiel sind um die achtzig Komponistinnen und Komponisten in und auf dem Land „amtsbekannt“. (Die Dunkelziffer wird etwas höher sein.) Achtzig unterschiedliche Stimmen. Achtzig Menschen, die mehr oder weniger nach Neuem, aber vor allem nach Eigenem suchen. Achtzig Klangschöpfer, die komponieren, weil sie es müssen und weil es Möglichkeiten zum Spielen gibt. Typische genealogische Klangeigenschaften auszumachen ist in etwa so interessant, wie den Salzgehalt der Donau zu messen, der man gerne eine gewisse Walzerseligkeit unterstellt. Der Fluss kann nichts dafür, Johann Strauss schon.
Um noch einmal bei der Geografie zu bleiben: Vor einigen Jahren hatte Ernst Ludwig Leitner Gäste in seinem Haus, für die der leidenschaftliche Koch natürlich „aufgekocht“ hat. Einen Tag darauf erhielt er von seinen Gästen eine Nachricht: „Wir wussten gar nicht, dass Wels in der Toskana liegt.“ Leitner schreibt für das Neue Musiktheater eine „Fadinger“-Oper (nach einem Libretto von Franzobel). Während dieser Arbeit war er durch und durch Oberösterreicher, wie könnte es als „begeisterter und bekennender“ Oberösterreicher mit diesem Stoff sonst sein. Sollte er aber noch Gelegenheit haben, etwa eine Oper über Lorca zu schreiben, wäre er doch mehr Spanier. Eine „geografische“ Voraussetzung ist für ihn überall gegeben, wo es nette Menschen, guten Wein und gutes Essen gibt, und dann liegt Wels auch in der Toskana.
Ernst Ludwig Leitner wurde wie auch Peter Androsch oder Helmut Schmidinger, der die Kinderoper Lynx, der Luchs (Libretto: Elisabeth Vera Rathenböck) fürs neue Haus schreibt, in Wels geboren. Hier erblickten auch Christoph Ransmayr, der Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg oder der Schreiber dieser Zeilen das Licht der Welt. Die Stadt kann weniger dafür als die hier lang situierte Frauenklinik. Der Einzige, der den Namen seiner Heimatstadt seinem Künstlernamen einverleibt hat, wurde in Linz geboren und ist amtierender Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper.
Nach diesen gedanklichen Purzelbäumen ist es doch an der Zeit einen Punkt anzusteuern, den es vielleicht gar nicht gibt. Faktum ist: Es gibt die zeitgenössische Oper in Oberösterreich. Es ist möglich, in unserem Land Opern unserer Zeit zu erleben. In Balduin Sulzers Materialordner zu seiner ersten Oper In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa, die 1984 am Linzer Landestheater uraufgeführt wurde (1998 folgte ebendort sein Proteus und 2011 Kaspar H), findet sich eine lose, handgeschriebene Notiz: „Das Theater ist eine Schule des Lachens und des Weinens und eine freie Tribüne.“
Eine freie Tribüne mit Blick aufs offene Meer. Linz liegt am Meer. Wer es nicht glaubt, sollte ins Theater gehen!