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„Und dann ist mir ganz plötzlich die Erinnerung erschienen“

LESEPROBE / MEIN PROUST-MOMENT

18/11/22 Madeleine hieß die Küchenmagd des polnischen Exilkönigs in Frankreich, Stanislas Leszczynski. 1755 buk sie dem Schwiegervater Ludwigs XV. eine Bäckerei, die seither ihren Namen trägt. Marcel Proust machte die Keks so richtig berühmt: Madeleines zum Tee erweckten Erinnerungen... Zu seinem 100. Todestag erschien bei Müry Salzmann Mein Proust-Moment. Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt. – Hier eine Leseprobe.

Der süße Teig der frühen Jahre

Von Julya Rabinowich

Es gibt Erinnerungen, die man immer mit sich trägt wie eine abgegriffene Fotografie im Portemonnaie, wie einen Glücksbringer, der einen seit Jahren begleitet und ohne den man sich den Stromschnellen des Lebens ausgeliefert fühlen würde, auch wenn sich nachweislich nichts, aber rein gar nichts ändert, sollte man diesen Glücksbringer verlieren.

Andere Erinnerungen tauchen nur ab und an aus dem Schlamm des Unbewussten auf, glänzend und trügerisch, ein verwunschenes Goldfischlein, das man zu fangen versucht. Diese Erinnerungen sind oft die spannenderen, schmerzhafteren, sie schenken, wenn man sie doch dingfest machen konnte, einen Sturzflug in die Vergangenheit, oftmals in die frühe Kindheit, dorthin, wo das Gefühl und der Gedanke sich noch nicht so genau trennen ließen, dort, wo die Membran zwischen dem Ich und dem Es noch durchlässiger und zarter war.

Wie Mary Poppins’ Medizin schmecken diese Erinnerungen für jeden anders. Die meinen schmecken nach Pyschki, einem russischen Gebäck, eine Chimäre aus Donut und Krapfen, fetttriefend, ausgebacken und dann staubzuckerbedeckt und in der Mitte die Abwesenheit jeder Materie aufweisend. Sie hingen in einer goldenen Reihe an einer goldenen Stange hinter der Bar in einer der Sabegalovkas in den kleinen krummen Gässchen, unterbrochen von Kanälen der Vassiljewskiinsel. Die Bar schien mir riesig, die goldene, Genuss versprechende Stange dehnte sich wie der Urknall in die Unendlichkeit, ich war so klein und die Pyschki waren so unüberwindbar groß, und dennoch gewann ich den Kampf jedes einzelne Mal, wenn mein Vater mir eine von oben herabreichte, ein Geschenk der Götter, mehr noch, die Übergabe des Feuers, die Pyschki waren die Erkenntnis, und mein Vater war der furchtlose Prometheus.

Die Sabegalovka: eine Art Bistrot, die mein Vater frequentierte, als wir noch in Leningrad lebten, bevor Leningrad zu St. Petersburg mutierte. Mich nahm er öfter mit, meistens auf dem Weg in sein Atelier. Es gab damals sogar Lokale, die sich ganz auf Pyschki spezialisiert hatten, Pyschetschnaja genannt, aber die Erinnerung an diese ist zu trüb, um sie konkret werden zu lassen, vermutlich war ich dort, aber kein Bild entsteht bei dem Gedanken daran. Die Sabegalovka hingegen schwingt und singt in mir, wenn der süße Teig, den ich auf dem Gaumen zergehen lasse, eine Ähnlichkeit entwickelt zu jenem Teig meiner Kindheit, der unbeschwerte Zeit mit meinem Vater, der schon so lange verstorben ist, bedeutete. Ein schwebender Zustand zwischen Kindergarten und Zuhause, ein Niemandsland, das Tochtervaterzeit bedeutete, nur für uns beide.

Mit freundlicher Genehmigung des Müry Salzmann Verlages

Anton Thuswaldner (Hg.): Mein Proust-Moment. Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt. Verlag Müry Salzmann, Salzburg 2022. 19 Euro, 144 Seiten – www.muerysalzmann.com
Marcel Proust zum 100. Todestag – Freitag (18.11.) ab 18 Uhr im Literaturhaus: Film, Vortrag, Gespräch & Lesungen aus dem Buch Mein Proust-Moment mit Roman Reisinger, Elke Laznia, Peter Kümmel und Anton Thuswaldner. Es ist eine gemeinsame Veranstaltung von Verein Literaturhaus, Cultures francophones, Verlag Müry Salzmann und Institut francais d'Autriche - www.literaturhaus-salzburg.at

 

 

 

 

 

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