… eine Bagatelle wie der Weltkrieg
LESEPROBE / STEFAN ZWEIG
16/03/22 In die Zentren der Welt, an die Ränder der Erde, von Algier bis Russland verschlug es den Weltbürger Stefan Zweig. Der Jung und Jung Verlag brachte unveröffentlichte Reiseberichte heraus „und solche, die an entlegenen Orten erschienen sind“. Visionär, beklemmend und erhellend in aktuellen Kriegszeiten in Europa ist der Text Bei den Sorglosen. – Hier als Leseprobe.
Von Stefan Zweig
Bei den Sorglosen (1918)
Non vi si pensa, quanto sangue costa.
Und denkt doch keiner, wie viel Blut es kostet.
Dante, Paradiso XXIX. 91
Besuch bei den Sorglosen, dieser aussterbenden Gemeinschaft unserer Welt. Einstmals, vor dem Kriege, hatten sie die ganze Erde, sie fuhren über Länder und Meere wie selige Vögel dahin, sie nisteten, wo immer Sonne glühte und Schönheit leuchtete, an der azurnen Küste Italiens und in den grauen Fjorden des Nordens, in den Tälern Tirols und den Burgen der Provence. Unermeßlich war ihre Bruderschaft, verbreitet in alle vier Winde der Welt, hinschwebend über die Sprachen, forteilend über die Grenzen, überall den Schaum, den hellen und süßen, des bewegten Lebens abtrinkend mit ihren ewig durstigen Lippen. Wo waren sie nicht, die Sorglosen? In den donnernden Städten fuhren leicht und federnd ihre Karossen, auf den Höhen der Alpen sausten sie winterlich, und ihre fernsten Konquistadoren lehnten weich auf den Promenadendecken der Schiffe und rollten abends in Kandy auf den Rikschas flügelnd dahin. Von der goldenen Welle des Reichtums getragen, schwebten sie über Völkern und Sprachen, die große Gemeinschaft der Sorglosen, eltumspannend, weltgenießend, nutzlos und schön, die Schmetterlinge des Lebens.
Wo ist sie heute, die große Gemeinschaft? Zersprengt in alle Winde, der Krieg hat sie vernichtet: es gibt keine Sorglosen mehr. Fast keine mehr. Der Schwarm ist zerstoben, nur ein armes, ein winziges Häuflein hat sich gerettet. Aus ihren Ländern sind sie geflohen, der Gefahr zu entgehen und den kleinen Ärgerlichkeiten. Die Gesetze schnürten sie dort zu peinlich, der Neid trat auf ihre Fersen, und die Sorglosen lieben nur den Neid der anderen Sorglosen, nicht den der Bedrückten. Aber selbst draußen im neutralen Land, war ihnen der Krieg noch zu nah. Auch hier hat er sich ja eingeschlichen in die Städte, auch hier grinst er noch von Plakaten und Verordnungen, auch hier stört noch Armut und Proletariat, der trübe Dunst von der Bettelsuppe des Lebens. Und sie wollten allein sein, untereinander, Sorglose mit Sorglosen!
So sind sie in die Höhe geflüchtet, in den schönsten Winterwinkel der Welt, ins Engadin, nach St. Moritz. Hier kann das versprengte Fähnlein wieder sich sammeln und sein frommes Ritual, den Luxus, abhalten. Hier ist keine Armut links wie in den Städten, keine Krankheit rechts wie in Davos, Einschränkungen des Vergnügens haben nicht mehr die drohende Wirkung. Die Hotels, ihre alten Burgen des Luxus, stehen offen: langsam finden sich die Sorglosen wieder. Ein paar Hunderte freilich nur von den Hunderttausenden, die einst über die Erde hinschwebten. Aber der Schwarm hat ein Nest hier gefunden in St. Moritz: das letzte Häuflein der Unerschütterlichen ist beisammen und lebt in alter Weise, der wohlbekannten und uns doch so fremd gewordenen. Man lacht hier viel, man amüsiert sich. Man denkt nicht an den Krieg. »Non vi si pensa, quanto sangue costa.«
Oh, wie klug sind die Sorglosen! Wie wußten sie immer das Schönste vom Schönen, das Beste vom Besten auszuspüren! Und auch ihre letzte Trutzburg in dieser Zeit, St. Moritz, wie zauberhaft leuchtet sie in diesen Sonnenwinterstagen! Eine Perlmuschel mit geschliffenen Rändern, zackt sich die weiße Mulde gegen das durchsichtige Blau: aufgehoben aus der Tiefe in die Firnen, liegt dieses weiche Tal noch unter unendlichem Himmel. Denn so rein ist hier die durchsonnte Luft, daß alles noch ferner scheint und die Sterne nachts weiß niederbrennen aus Unabsehbarkeit. Und dieses Weiß in derWintersonne, das allgegenwärtige Weiß, das makellose, unirdische Weiß des Hochlandschnees, ist von einer Farbe, wie sie von allen Dingen der Welt nur die Edelsteine haben, die ihre Farben nicht still tragen wie ein Kleid, sondern aus sich brennen, gleichsam als ihre Seele. Man kann es nicht schildern. Man kann es auch nicht malen. Die Segantini-Bilder sind schön, bis man diese Wirklichkeit kennt, und einem vielleicht nachher wieder lieb als Erinnerung, hier aber bleiben sie arm. Sie verlieren ihren Glanz so wie das Wort Winter hier seine Kraft. Alles Böse, Drohende, Harte, das in dem spitzen Vokal, dem starren Konsonanten schwingt, ist hier fort: Winter, das ist hier Glanz, Sonne, Klarheit, Licht, Heiterkeit und Reinheit. Etwas Funkelndes wie der Diamant und doch mild zu fassen, etwas Reines wie Morgenlicht und doch von einer großen Kraft. Und etwas, das in großer Stille ruht und ganz ewig bliebe, störten es die Menschen nicht.
Aber die Sorglosen sorgen nur um sich. Mitten in die hohen, schöngeschwungenen Linien, ungeheuer im Ungeheuern, sind ein paar viereckige Blöcke geworfen, die Riesenkästen der Riesenhotels. Frech stehen sie mit ihren harten Stirnen gegen die Landschaft, unbekümmert, ob sie die Linie, die herrlich-harmonische, mit ihrer patzigen Gegenwart zerstören, gleichgültig auch sie gegen die andere Welt wie die Menschen, die sie beherbergen: die Sorglosen. Trutzburgen sind sie gegen die Zeit, Abwehr gegen das Außen, Heimstätten der Heiteren, der ewig Unbekümmerten. Hoch oben stehen sie über der Welt, über den Sorgen. Die vier grauen Schwestern sie klimmen nicht auf bis zu ihnen, das Leid, das unendliche Leid, das über alle Länder Europas sich als Blutsumpf breitet, stößt seinen Atem nicht in diese reine Luft. Hier sind sie sicher, die Sorglosen. Non vi si pensa …
An einer Kehre: zehntausend Diamanten splittern aus dem Schnee, eine Wolke sprüht und pulvert auf. Ein Bob saust vor über, drei, sechs, acht, Farben, grün, gelb, rosa, schwarz, Stimmen, Gelächter, Rufe, vorbei. Wieder einer, noch ein Geschoß, das lachend explodiert, jauchzend weitersprüht, ein Angstschrei, ein Lachen, Farben, gelb, safran, blau, und wieder vorbei. Und noch einer und noch einer! Den ganzen Tag saust es so von Chantarella herunter, immer fährt und funkelt es an einer Wende des Berges, immer zuckt von irgendwo hier Gelächter in der hellen Luft. Und gemächlich fährt die Seilbahn die Sorglosen wieder empor und wieder sausen sie nieder.
Auf den Hängen drüber in Fahrt und Sprung die Skisportler. Wie Blutflecken leuchten die roten Jacken aus dem Schnee, man muß an eine weiße Wiese denken mit vielen Springkäfern, die da übereinanderpurzeln und wettfahren. Unten und oben, überall Eislaufplätze, geschliffene Spiegel, die in die Sonne funkeln. Dazu Musik. Ein Walzer über Schnee hinwehend, warm und süß. Und sie tanzen, die jungen Leute, oder sie spielen Polo und Hockey wie rasende Fische über die gefrorene Fläche hinschnellend. Und wieder die Musik und immer die Farbe, die wunderklare, in der Sonne strahlend! Dann wieder Schlitten: Vornehme Frauen mit kostbaren Pelzen lugen heraus, in das Klingen klirrt das Gelächter. Reiter zu Pferd, die hinter sich die Skifahrer an Seilennachschleifen – ich weiß, alles dies ist Sport, aber es wirkt irgendwie lächerlich. Wie eine Maskerade, wie ein Kinderspiel von Erwachsenen. Sie sind alle zu elegant, zu gesucht in den Kostümen – die Augen brennen einem von den grellen Farben – und alle zu heiter: ein Jahrmarkt, eine Fête d’hiver, ein Maskenfest, so fühlt man’s. Irgendwie zu laut, zu lustig, zu frech, als daß man nicht den Gegensatz ahnte, den ungeheuren, dem dies zu Trotz geschieht. Und daß diese Leute auf ihr Lachen, auf ihre Unbesorgtheit so stolz sind wie auf ihre Diamanten und die Adelskrone im Siegelring.
Nein, sie langweilen sich hier nicht, die Sorglosen. Seit Jahrzehnten trainiert auf den vornehmen Müßiggang kann eine Bagatelle wie der Weltkrieg sie nicht von ihren Vergnügen abbringen. Ach, alle sind sie da, die man kennt von Vichy und Ostende und Karlsbad, und man kennt schon all diese kleinen Dummheiten, von denen man nicht versteht, daß sie diese Menschen nicht schon anöden, den Tangotee und die Soirées dansantes, die Maskenbälle und die Tennismatches und den Prestidigitateur – nur das Roulette fehlt und die Petits chevaux (oder vielleicht habe ich sie nicht gesehen). Ach, alles haben sie wieder um sich her, die Sorglosen, was sie brauchen, die Geschäfte mit den Blumen aus Italien und der Riviera und die Patisserie und die Parfümerie, all diese Geschäfte, in die man nur aus Langweile geht. Und natürlich den Antiquitätenladen – wie könnte man den entbehren, den Antiquitätenladen 1800 Meter über dem Meere mitten im Weltkriege? Nichts, nicht einen Gran geben sie preis vom Einstigen, diese Letzten, Zähesten der großen Brüderschaft, die nun zerstoben ist in alle Winde der Welt. Wieder sitzen sie beim Tee, flirten und lachen, ein Tangopaar biegt und schwingt sich zur Melodie. Oh, wo ist der Krieg? Wo die verstörte Welt? Walzer, ein sanfter Walzer zum Tee. Und Lächeln und fliegende Blicke.
Lachen und Übermut: man horcht zwischendurch auf die Worte. Französisch, deutsch, italienisch, englisch – sie haben keine Heimat, die Sorglosen, sie sind von überallher. Und sie haben keine Väter, keine Brüder, keine Gatten, die sterben – man sieht es an ihren leichten Lippen. Sie sind jenseits von allem, nur mitten in ihrem Vergnügen. Ein Walzertakt hebt ihnen die Schultern, ein Lächeln trägt alles Lästige fort. Wer hat hier noch Sorgen? Gelächter und Musik. Non vi si pensa …
Man denkt an Freunde, die zu gleicher Stunde jetzt irgendwo auf einer Schneehöhe liegen, ihrem Tode gegenüber, an andere, die jetzt, in dumpfen Bureaus seit Jahren gefangen, Zettel um Zettel ausschreiben müssen, man denkt an die tragischen Vorstädte Europas mit ihren mächtigen Larven von Frauen und grauen Schatten von Kindern – und man kann nicht anders, als sich dieser Menschen schämen, wie sie so lachend die Schneehänge herunterfahren in ihren Affengewändern. Aber doch, so sehr sich die Seele erbittert, wider Willen, ganz wider Willen hat das Auge Freude an ihnen. Es tut so wohl, wieder einmal gesunde, junge, heitere Menschen zu sehen, Jugend, die sich selbst geschenkt ist und diese Freiheit fühlen darf. Die es ahnen und leben ohne Angst: ich bin stark, ich bin jung, ich bin gesund! Jugend, die mit ihrer Kraft spielt, statt sie mörderisch zu verwerten, die nicht in Erdlöchern und Kasernen vermauert ist, sondern turnerisch leicht, das höchste, das seligste Gefühl der Erde genießt: Freiheit. Die, rot, die frischen Gesichter vom Sonnenbrand und vom rollenden Blute, in Paaren über das spiegelnde Eis tanzt, Kraft vereinend mit Grazie, auf Pferden hingaloppiert, schöne Linie der Leichtigkeit und Lust, und in Skiern frei und leicht in die Lüfte springt. Mit einemmal weiß man wieder, wie schön die Kraft ist, wenn sie nicht Gewalt, Roheit und Mord wird, wenn sie sich nur selbst genießt als Bewußtsein, als Harmonie, als Spiel. Und man erinnert sich, wie schön vordem die Welt war, als ihre Jugend noch Freude hatte!
Zwiespalt der Zeit! Man sieht die Freude der Menschen und schämt sich ihrer. Man sieht ihre Trauer und wünscht ihnen Freude. Man möchte mittun und fühlt sich in Schuld gegen die anderen, denen alles versagt ist, man möchte sorglos sein mit den Sorglosen und haßt doch ihre Kälte. Zwischen zwei Wellen schaukelt das Herz. Der Mensch in uns, der brüderlich aufgetane, mahnt: birg dich, verbirg dich, tu Trauer für das unendliche Blut! Und das Leben in uns, das ewig teilnahmslose, das nur sich selbst will und seine erlesenste, kostbarste Blüte, die Freude, es lockt: bleib ganz in dir, bleib froh, deine Trauer wird es nicht ändern! Der Mensch in uns sagt: zahl freiwillig deine Schuld an die fremde Not, leide mit alles Leiden, versag dir die Freude! Und das Leben befiehlt: gib dich hin an jede Freude, sie ist deiner Seele Brot und Blut! Der Mensch in uns sagt: nur durch Trauer lebst du wahrhaft die Zeit, fühlst du den Krieg. Aber das Leben spricht: nur durch Freude erlöst du dich von der Zeit, besiegst du den Krieg! Und das Herz, das irdische, schwankt. Es sehnt sich nach Freude der ganzen Welt und schämt sich jeder eigenen. Es haßt die Sorglosigkeit und haßt auch seine eigene Bitterkeit, seine zwecklose Trauer, die keinem hilft. Es bleibt heimatlos unter den Heiteren und horcht doch sehnsüchtig nach ihrem Lachen. Und fühlt sich unendlich allein hier zwischen der strahlenden Landschaft und den eisigen Herzen.
Satirspiel des Abends nach der ewigen Komödie des Tages: Maskenball in einem der Luxushotels. Nein, die Sorglosen, sie langweilen sich nicht. Zuerst noch Fracks und Dekolletés in den hohen Sälen, Diamanten blitzen und die Blicke dazwischen, auf den Tischen lockt, was im Kriegsland der Verwegenste nicht mehr erträumt. Noch immer sitzen sie wie einst und spielen ihre Kinderspiele: Gesellschaft, Vornehmheit,
Eleganz, Flirt. Europa stürzt in Trümmer. Die Zigeunerkapelle fidelt. Zehntausend Menschen sterben jeden Tag. Das Diner ist zu Ende, der Maskenball beginnt. Witwen sitzen frierend in allen Gemächern der Welt. Mit nackten Schultern tritt eine Marquise vor, ein maskierter Chinese ihr gegenüber. Masken und Masken strömen herein. Und wirklich, sie sind wahr. Nirgends ein menschliches Gesicht unter ihnen.
Die Spiegelleuchter brennen. Der Tanz hebt an. Süße weiche Takte, indes irgendwo jetzt Schiffe in die Tiefe fahren und Gräben gestürmt werden. Die Sorglosen tanzen den Mummenschanz der Nationen.
Und man sehnt sich, es geschähe wie einst, daß plötzlich die Lichter auslöschten und die Feuerschrift Belsazars Worte hinschriebe an die starre Wand. Oder Dantes Zeile, die fürchterliche: »Non vi si pensa, quanto sangue costa.«
Mit freundlicher Genehmigung des Jung und Jung Verlages.
Bernhard Fetz und Arturo Larcati (Hg.): Stefan Zweig: Häfen und Bahnhöfe, sie sind meine Leidenschaft. Reisen mit Stefan Zweig. Jung und Jung Verlag Salzburg 2021. 352 Seiten, 25 Euro - jungundjung.at
Buchpräsentation und Gespräch mit Bernhard Fetz und Arturo Larcati am Donnerstag (17.3.) um 19.30 im Stefan Zweig Center in der Edmungsburg. Es liest Lisa Fertner - stefan-zweig-zentrum.at
Bild: jungundjung.at