Subtil, mit Tiefgang und Spannung

FILMKRITIK / ANATOMIE D’UNE CHUTE / ANATOMIE EINES FALLS

16/11/23 So unterschiedlich die Siegerfilme des Cannes Film Festivals der vergangenen Jahre (Parasite, Titane, Triangle of Sadness) ausfielen: Es waren um Aufmerksamkeit eifernde, wenig  subtile Filme, die Geschmacks-Standards in Frage gestellt und neu definiert haben. Ganz anders Anatomie d’une chute von Justine Triet.

Von Andreas Öttl

Anatomie d’une chute von Justine Triet, der heurige Gewinner der Goldenen Palme, ist hingegen mit seiner Mischung aus Thriller, Gerichtsfilm und Beziehungsdrama, angesiedelt in einem gehobenen künstlerischen Milieu, zumindest auf den ersten Blick ein Vertreter eines eher konventionellen Qualitätskinos.

Die Romanautorin Sandra lebt mit ihrem Mann Samuel und ihrem sehbehinderten Sohn Daniel in den französischen Alpen. Als Samuel eines Tages tot am Fuße ihres abgeschiedenen Chalets aufgefunden wird, wird – nach Ausschluss der Unfalltheorie – bald eine Untersuchung eingeleitet, um zu klären, ob es Selbstmord war oder ob Sandra ihren Mann ermordet hat. Im Zuge des Gerichtsverfahrens wird die Beziehung von Sandra und Samuel durchleuchtet und auch Daniel kommt dabei im Gerichtssaal eine gewichtige Rolle zu.

Seine Faszination bezieht der Film weniger aus der Klärung der Schuldfrage, welche anfangs noch dominiert, sondern daraus, was im Laufe des Prozesses über die Beziehung der beiden zum Vorschein kommt. Bemerkenswert ist dabei was für ein komplettes und glaubwürdiges Bild dieser kriselnden Ehe man dabei als Zuseher bekommt, obwohl der Film nur aus dem Blickwinkel von Sandra erzählt ist.
„Szenen einer Ehe“ gibt es bis auf die Eröffnungssequenz keine, Samuel kommt nur über eine Tonaufnahme im Film vor und doch hat man das Gefühl, auch diese Figur – einen gescheiterten Mann im Schatten seiner erfolgreichen Frau – kennengelernt zu haben.

Anatomie d’une chute ist ein unaufdringlicher, aber präzise inszenierter Film, der trotz sparsam eingesetzter Mittel Spannung erzeugt. Verantwortlich dafür ist einerseits das intelligent aufgebaute Drehbuch, welches Informationen über die Hauptfiguren und deren Vergangenheit behutsam enthüllt. Vor allem aber ist es Hauptdarstellerin Sandra Hüller, die den Film prägt und mit ihrem nuancenreichen Spiel brilliert. Die Goldene Palme für diesen intimen, handwerklich unspektakulären, aber dennoch fesselnden Film ist eine dem Status Quo des Weltkinos gut bekommende Jury-Entscheidung; Ein guter Griff in einer Zeit, in der man von einem Festival-Siegerfilm quasi erwartet, dass er die Filmkunst vorantreibt und gleichzeitig gesellschaftliche Probleme thematisiert. Anatomie d’une chute ist hingegen ein überzeugender Beweis, dass auch klassische Film-Sujets noch ihre Berechtigung haben, wenn sie starke Charaktere haben und mit Feingefühl und psychologischem Tiefgang behandelt werden.

Bilder: www.viennale.at