Beschädigtes (Erb-)Gut
UNIVERSITÄT MOZARTEUM / VOR SONNENAUFGANG
20/05/15 Einen Abstecher auf den Bauernhof wagen die Studenten des Thomas Bernhard Instituts mit Gerhard Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“. Dabei verwandeln sie den Klassiker des Naturalismus in eine knackige Groteske.
Von Christoph Pichler
Beim Eintritt ins Theaters im KunstQuartier wird das Publikum von einer schlecht gelaunten Arbeiterin empfangen, die in gebrochenem Deutsch vor einer lebensgefährlichen Wende nach rechts warnt und über die schlechten Arbeitsbedingungen ihres Sohnes in den Kohleminen klagt. Schließlich betritt auch ein Mann mit großem Reiserucksack den Saal und verfolgt interessiert das Geschehen. Es ist Alfred Loth, der seinen alten Schulfreund Hoffmann besucht, um eine Studie über die Lage der hiesigen Bergarbeiter zu verfassen. Der Besuchte ist nicht gerade glücklich über dieses Ansinnen, erwartet er sich davon doch nur ein aufrührerisches antikapitalistisches Pamphlet.
Ungleich größer ist die Freude über den ungebetenen Gast bei Hoffmanns Schwägerin Helene. Die naive Tochter des Altbauern verliebt sich rasch in den Neuankömmling und erhofft sich von ihm die gemeinsame Flucht aus ihrem unglücklichen Leben. Doch mit Dr. Schimmelpfennig hat es noch einen weiteren gierigen alten Freund Loths in das Milieu der neureichen Bauern verschlagen, und als Arzt sind ihm die Geheimnisse des Ortes und speziell der Familie von Helene bestens bekannt.
Mit radikalen Kürzungen dampfen die Studentinnen und Studenten des Departments für Schauspiel/Regie des Thomas Bernhard Instituts Hauptmanns komplexe Studie auf eine knapp einstündige Achterbahnfahrt zusammen. Aus dem großen Personennetzwerk des Stücks reichen ihnen fünf Akteure, um die stickige Atmosphäre aus Kapitalismus und Alkoholismus, aus Prasssucht und Leere, die die arbeitsscheuen Profiteure der Kohlenminen umgibt, einzufangen. Während sich Hoffmann (Simon Rußig) von einer Champagnerflasche zur nächsten hangelt und seine Finger selbst bei Schwägerin Helene nicht im Zaum halten kann, irrt Dr. Schimmelpfennig (Benedikt Flörsch) auf der Jagd nach einem möglichst großen Anteil am Kohleberg zwischen Patienten und Partys herum.
Loth (Ludwig Hohl) wirkt als Abstinenzler aus Leidenschaft wie ein Fremdkörper im System und löst so auch manche Abwehrreaktion aus. Bei der romantisch veranlagten Helene (Vassilissa Reznikoff), die ihre Zeit am liebsten im Goldtaler-Regen oder beim Hula-Hoop verprasst, weckt der Mann mit den schlauen Büchern neben Liebesgefühlen auch Fluchtgedanken. Doch für ihn ist sie beschädigtes (Erb-)Gut und so wie Arbeitermutter und Magd Miele (Vidina Popov), die mit ihren kritischen Fragen nie wirklich Gehör findet, zu einem Weitervegetieren im eigenen Milieu verdammt.
Regisseur David Schnaegelberger hat den Rotstift großzügig über dem Klassiker kreisen lassen und aus dem sich langsam entwickelnden Sozialdrama eine temporeiche Groteske gezaubert. Dabei sind die vielen schweren Problemfelder keineswegs auf der Strecke geblieben, allerdings lockern bis zur Albernheit überzeichnete Szenen die drückende Stimmung immer wieder auf. So kriechen, krabbeln, tänzeln und taumeln die fünf stark aufspielenden Schauspielschüler über die von einem Holzhäuschen dominierte Bühne und verlieren sich dazwischen in den lärmenden Klangwelten von Tom Müller. So komprimiert und kompromisslos hat man Gerhard Hauptmann schon lange nicht gesehen: Laut, lustig, lohnt sich einfach.