Mit der Kreide in der Hand
KAMMERSPIELE / DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK
18/11/13 „Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein“, begrüßt Anne in ihr neues Tagebuch. Der Rest ist Zeit- und Literaturgeschichte. „Das Tagebuch der Anne Frank“ hatte als szenisch-theatralische Lesung mit Claudia Carus in der Titelrolle am Freitag (15.11.) in den Kammerspielen Premiere.
Von Alicia Tuchel
Die größte Herausforderung bei jeder Anne Frank-Produktion ist es, dem literarischen Urtext möglichst treu zu bleiben und gleichzeitig dem Publikum eine interessante abwechslungsreiche Darstellung zu bieten. Und hier haben - dies gleich einmal vorausgeschickt, Regisseurin Anna Stiepani, Dramaturg Tobias Hell und Ausstatter Karl-Heinz Steck - ganze Arbeit geleistet.
Die ausgewählten Ausschnitte wurden so zusammengesetzt, dass ohne Längen für den Zuschauer Inhalt und Atmosphäre des Buches vermittelt werden. Besonders beeindruckend ist der krasse Kontrast zwischen Annes Gedanken, die sich um erste Liebe, Hoffnung und letztendlich auch um Frieden drehen, und den Bombenangriffen auf die Stadt: Der Krieg wird dem Publikum in Ton und Bild – letzteres projiziert auf eine halbdurchsichtige Leinwand – nahe gebracht. Aufheulende Flugzeugmotoren und Bombengedröhn stehen im dramatischen Gegensatz zu dem kleinen Raum im Hinterhaus einer Fabrik, in dem ein 13-jähriges Mädchen gerade die Welt entdeckt. Ja noch mehr: ihre Gefühlswelt.
Die aus Berlin stammende Schauspielerin Claudia Carus, die im Landestheater derzeit auch als „Pippi Langstrumpf“ unterwegs ist, versetzt sich wunderbar hinein in den bereits sehr erwachsenen, doch auch immer wieder quirligen und temperamentvollen Charakter der Anne Frank.
Wenn sich Anne über ihre Mutter und ihren Zimmergenossen Albert Dussel aufregt, gelingt es der mit weißen Strümpfen, grauem Kleid und blauer Strickjacke gekleideten Schauspielerin durch ihre laute Stimme, das verzerrte Gesicht und die Tritte gegen die Wand pubertäre Wut anschaulich darzustellen. Das verspielte Kind dagegen wird für die Zuschauer durch die Körpersprache sichtbar, wenn Anne auf dem Boden liegt, ein Lied summend durchs Zimmer hüpft oder die Wände mit Kreide voll malt.
Doch nicht nur die vier Wände (inklusive der unsichtbaren Wand zum Publikum) werden kreativ verschönert. Auch den Fußboden, sowie den kleinen schwarzen Tisch und den schwarzen Stuhl in der Mitte des dunklen Raumes beschreibt Anne im Laufe der Produktion mit Buchstaben, Worten, Sätzen voll. Ja selbst die Stuhlbeine erhalten einen „Text“.
Dieses ständige Schreiben - eine ganz grandiose Idee der Regisseurin - verbindet das Schauspiel quasi mit dem Urtext und hebt die besondere Wichtigkeit des Schreibens für Anne hervor: Immerhin war das Tagebuch „Kitty“ für die historische Anne Frank die einzige und beste Freundin.
Claudia Carus spricht ihren Part nicht nur als Schauspielerin in einem Ein-Personenstück, sie liest als Rezitatorin einzelne Passagen auch einfach nur am Tisch sitzend vor. Dazu kommen Einspielungen vom Band. Das sorgt für Abwechslung. Ein lebhaftes Musikstück - eine Art „Anne-Theme“ – verbindet als roter Faden das Stück. Ein unerwartetes Ende bringt ein Filmausschnitt in Schwarz-Weiß: Menschen winken aus einem Fenster. Anne winkt zurück. Ein letztes „Lebewohl“?