Die schöne Flucht in die Würfelwelt
ODEION / FRÜHLINGS ERWACHEN
14/02/13 Manchmal rückt die Lektüre im Programmheft die Erwartungen rasch zurecht: „Bei diesem Projekt geht es ganz grundsätzlich um kulturellen Austausch. In unserem Fall ging es auch um die Auseinandersetzung mit dem Stück ‚Frühlings Erwachen‘“, tut da die Dramaturgin kund.
Von Reinhard Kriechbaum
Auch, das ist vermutlich das entscheidende Wort. Darf man eine stringente Sicht auf ein Stück deutschsprachiger Literatur erwarten, auf eines, das seinen Stellenwert in der Gegenwart eigentlich erst bestätigen, wenn nicht neu beweisen muss? Zuzutrauen wäre das – wegen der jeweils ganz unterschiedlichen Perspektiven – sowohl dem Russischen Nationaltheater Lessja Ukrainka aus Kiev als auch der Studiobühne twm (München), auf der sich angehende Theaterwissenschafter produktiv einbringen. Weil es aber eine Gemeinschaftsproduktion ist, geht es tatsächlich mehr um die Begegnung junger Theatermenschen von hüben und drüben als um relevante Ergebnisse in Sachen Frank Wedekinds.
Von einer durch und durch schönen, ästhetisierend angelegten Aufführung im Odeion ist zu berichten, zum Auftakt des „Borderlines Festival“. Anstatt eines Bühnenbilds unterschiedliche Quader und Eck-Würfel, schwarz und weiß. Sie werden immer wieder neu aufgebaut, skulpturhaft zusammengefügt. Diese Umbauten sind zugleich von Jaime Villalba-Sanchez choreographierte Szenen, zu interessanter Musik (Aleksandr Schymko).
Man hält sich eng an Wedekinds Text, aber die Besetzung ist so gewählt, dass in den Dialogen meist ein Darsteller russischer oder ukrainischer Zunge auf einen Deutsch-Muttersprachigen treffen. Das funktioniert nicht zuletzt auch wegen eines dramaturgischen Kniffs: Der allegorische „vermummte Herr“, den Wedekind in der allerletzten Szene einführt, ist hier immer auf der Bühne – eine Art Demiurg, für die Darsteller unsichtbar, der immer seine Hände an den jeweiligen Darstellern hat, sie lenkt oder abweist – und der praktischerweise auch gleich in Stichwörtern das Wesentliche übersetzt. Der in Salzburg als zweisprachiger Schauspieler wohlbekannte Jurij Dietz füllt diese Rolle aus.
So geht es also ohne Sprachprobleme durch „Frühlings Erwachen“, durch die eigenartige Spannung zwischen Schweigen und Scheinmoral (der Erwachsenen) und aufkeimender Liebes-Sehnsucht der Jüngeren, die nicht die leiseste Ahnung haben, wie das mit dem Machen und Kriegen von Kindern wohl funktionieren könnte. Das (Ver-)Schweigen und die Ahnungslosigkeit ließe sich wahrscheinlich metaphorisch auf Moralveränderungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs herunter brechen. Aber eine solche Sicht braucht vom Theaterbesucher schon gehörig viel guten Willen.
Irgendwie hat es eher den Anschein, dass sich alle Beteiligten aus der Affäre gezogen haben, indem sie für „Frühlings Erwachen“ in eine wundersam schöne Welt der Bilder, sanften Gesten und treuherzigen Blicke entfleucht sind. Auf diese Art ist’s wirklich gut gemacht.
Aber: Sind nicht erst dieser Tage junge Ukrainerinnen barbusig durch Notre Dame in Paris gehopst, um gegen Papst, Scheinmoral und Frauenunterdrückung zu demonstrieren? Es scheint, als ob die aktionistische Gruppe „Femen“ im Moment die besseren gesellschaftskritischen Karten gezogen hätte als die ambitionierten Theaterleute.