Labiles Gleichgewicht
WINTERFEST / CIRQUE INEXTRÉMISTE
03/12/12 Was täte einer allein schon ausrichten bei einer Balanceübung am Brett? Die große Frage nur: Sind drei nicht einer zuviel, wenn es gilt, die Wage zu halten? Beim Winterfest, wo der „Cirque inextrémiste“ gastiert, hat man ausreichend Zeit zum Sinnieren.
Von Reinhard Kriechbaum
Einer der drei Artisten sitzt im Rollstuhl. Nicht, weil es die Rolle so vorschreibt, sondern aus Lebensschicksal. Wenn „so einer“ dann trotzdem im Zikusrund auftritt, ist die Angelegenheit von Natur aus schon politisch ein wenig inkorrekt. Und wenn dann noch zwei „Gesunde“ daherkommen und mit dem Armen (und dem Entsetzen darob) Scherz treiben – dann ist also außergewöhnlicher Zirkus angesagt.
Im Fall der Produktion „Extrêmités“ außergewöhnlich auch in der Reduktion der Mittel. Es geht nämlich ausschließlich um Äquilibristik auf schlichten Brettern. Und auf Gasflaschen, die als Stützen oder Drehpunkte dienen. Es gibt ausreichend davon vor der schlichten Wellblechwand. Der Raum wirkt wie eine Werkstätte oder ein Lager. Mag sein, dass sich die drei dort Beschäftigten (einer also vermutlich ungeschützt auf geschütztem Arbeitsplatz) gerade die Mittagspause mit allerlei Scherzen vertreiben.
Der Schabernack trifft nicht nur den Behinderten, denn der erweist sich unter seinem Hut als rechter Pfiffikus, der die beiden anderen schon gelegentlich schmähstad macht. Denn wenn man so schön in Balance ist, dann reicht es, wenn einer etwas Unerwartetes tut, dass die Dinge keineswegs mehr im Lot – oder in dem Fall in der Wage sind.
„Extrêmités“ ist Cirque nouveau für Hardliner. Die Angabe „ohne Altersbegrenzung“ sollte man also nicht in dem Sinn verstehen, dass das lockere Familienunterhaltung wäre. Dafür ist viel zu wenig los. Die Botschaft ist im Grunde so simpel wie die Mittel (und beides rasch durchschaut und zu Ende gesehen): Das Verhältnis zwischen Menschen ist ein empfindliches. Wer sich zu viel Eigenwilligkeit herausnimmt oder gar mit Bosheit das Blatt für sich zu wenden versucht, gefährdet die Harmonie entscheidend und ist am Ende womöglich sogar der Angeschmierte.
In einer Zeit der zum Fetisch erhobenen Selbstverwirklichung und der rundum blühenden Ich-AGs ist diese Message sogar ein bisserl unangenehm. Beim Winterfest nimmt man sie freilich zur Kenntnis und darf sich sogar gut fühlen dabei, denn ein Euro vom Kartenpreis kommt der Organisation „Wings for Life“ zugute. Sie unterstützt Rückenmarks-Forschungsprojekte und die Heilung von Querschnittgelähmten.