Sind wir nicht alle herrlich neurotisch
KABARETT / MOTZART / ANNAMATEUR & AUSSENSAITER
08/02/12 Kabarettneurose oder Neurosenkabarett – Annamateur ergab sich samt ihrer Außensaiter ver-rückten Gefühlen. Und wenn das auch eine komische Sache ist, so ist es durchaus nicht lustig. Gar nicht lustig. Zwischen Melancholie, Mitfühlen und Wiedererkennung endete das Motzart-Festival mit einem Kabarettabend der etwas anderen Art.
Von Christiane Keckeis
Schon der Overhead-Projektor zwischen Cello und Gitarre und den beiden „Außensaitern“ Stefan Braun und Samuel Samuel Halscheidt zeigt: Wir befinden uns in der Schule des Lebens, wie Lehrerin Annamateur gleich einmal zeigt: „Sitz gerade! Das ist falsch! Arbeite sauber! Du bist schwierig!“ um dann gleich wieder mit salbungsvoller Stimme zu verkünden: „Du machst mich so traurig, wenn ich immer mit Dir schimpfen muss!“ Die unguten Erinnerungen bahnen sich Weg durch das Publikum, Magengrummeln setzt ein und das Gefühl, wieder Volksschüler zu sein, dessen höchstes Ziel die Bravheit und das Angepasstsein zu sein hat. Eine Parodie? Uiuiui – da sind wir dann schon mitten drin in den Gefühlen, ja soll man denn beim Kabarett nicht lachen, Distanz nehmen zum Gefühl, den Kopf arbeiten lassen? Ja, bitte schön was ist denn das, Frau Kabaretteuse?
Annamateur spielt mit diesem Kippeffekt zwischen hilfreicher Distanz und gefühlsmäßigem Mittendrin, und da wird’s dann manchmal für Kabarettverhältnisse recht melancholisch, ernsthaft, berührt. Gerade die Chansons, auf denen das Programm aufbaut, verdichten, manchmal in poetischen Bildern, dann wieder in krassen Graffiti. Und immer geht’s um Gefühle. Und um Menschen, die durch Gefühle, Situationen ver-rückt sind. Die Nervenklinik-Inge, die die Realität flieht und in weiße Träume abtaucht, das Borderline-Schneewittchen, das Domina-Aschenputtel, der Grobmotoriker-Bob, die Ritalin-Janine, die für die glattbegügelte Welt steht, emotionslos und berechenbar. Komik als die Kehrseite der Betroffenheit – oder doch eher umgekehrt?
Damit die Ernsthaftigkeit nicht überhand nimmt, setzt Annamateur sich ganzheitlich mit ihren zahlreichen Talenten ein – und ihre Musiker gleich mit. Und natürlich den Overhead-Projektor, der zum Zeichnen ebenso herhält wie zum Liebesbriefschreiben („Willstu mit mir gen? Ja-Nein-Vielleicht“) – und das ganz ohne gesprochene Worte, nur mit Musik. Wie sich ein Krieg entwickelt aus der Konkurrenz des Weitpinkelns, kleiner Anlass, große Wirkung, Annamateur zeichnet es zum Mitschauen, untermalt es mit Micky-Maus-Gefühls-Geräuschen, zunächst witzig, dann immer bedrohlicher, zuletzt alles zerstört, zerkritzelt, verweint und nur mehr die schwarzen Kampfbomber erkennbar – schrecklich, nicht lustig. Wie eine Frau ihren Körper schönheitschirurgisch umbaut, skurril, pervers, bis nichts mehr echt ist und die gezeichnete Figur auf der Overhead-Folie einem Zombie gleicht, das geht so nebenher und gibt viel her fürs gespannt den Prozess verfolgende Publikum.
Und dann die Stimme, Annamateurs Instrument: mal ganz abgesehen davon, dass sie eine fantastische Röhre hat, wie kann sie die auch abseits vom Singen lautmalerisch einsetzen: vom ratlosen Brummen, befriedigtem Ächzen, hilflosem Stammeln, lustvollem Stöhnen bis zum schneidenden Aufjaulen, in feinsten Abstufungen. Ähnlich versiert im Umgang mit ihren Instrumenten musizieren, untermalen, rhythmisieren die beiden Musiker, musikalisch reizvoll, Stimmung schaffend. Und sie verlieren auch nicht die Fassung, wenn die Chefin sie niederbügelt oder kurzerhand in ver-rückte Verliebtheit verfällt und einen Heiratsantrag loslässt. Bemerkenswert emotionslos. Wer ist da der wahre Neurotiker? Diese Frage lässt das Programm schließlich offen.
Ein begeistertes Publikum erklatschte zwei hinreißende Zugaben, vor dem abschließend berührenden jiddischen Liebeslied eine herrlich böse Parodie auf die Massenverdummung bei Andre-Rieu- Konzerten: lieber gemeinsam dumm als denkend und einsam. Sind wir nicht alle herrlich neurotisch …