Der „Reverend“ kennt alle Werte
KABARETT / MOTZART / ANDREAS REBERS
02/02/12 Der regel-gerechte Reverend Rebers predigt, wertebewusst und gnadenlos böse. Das Motzart-Publikum genießt sozialpolitisches Kabarett auf höchstem Niveau, bis das Lachen im Hals stecken bleibt.
Von Christiane Keckeis
Wie Andreas Rebers da so auftritt, ahnt man kaum Böses, ein Durchschnittsmensch mit Jeans und Sportjacke. Nun gut, der Aufdruck „Alemannia“ auf der Brust und auch der Teppich mit den röhrenden Hirschen über dem Keyboard können schon leicht irritieren. Dann hebt er an zu sprechen und das Gruseln beginnt: mit salbungsvollen Worten, hinter denen unerbittliche Härte lauert, lässt Rebers die Figur entstehen, die durch das 2½-stündige Programm führt: einen geistlich-geistigen Führer, einen „Mann des Glaubens“, einen Gründer einer Religionsgemeinschaft der „sächsischen Bitotten“, weiß der Himmel, was das sein soll.
Das Wort Sekte fällt nicht, steht aber ununterbrochen im Raum, dann wenn die schmelzende Stimme des „Reverend“ plötzlich schneidet und schnarrt und das Funkeln in den Augen etwas Irres bekommt. Dann plötzlich wird aus dem höchst ehrenwerten Herrn wieder der kumpelhafte „Onkel Andi“, der in seiner scheinbaren Harmlosigkeit nicht weniger Unwohlsein verbreitet, schiebt er doch eine zweifelhafte Ansicht nach der anderen heraus und das mit dem überzeugtesten Selbstbewusstsein – und der kabarettistische Gedanke dahinter ist abgrundtief aufdeckend.
Aufgedeckt werden die Werte, aufgedeckt und zugleich entlarvt: als Pseudo-Werte einer orientierungslosen Gesellschaft. Alle bekommen ihr Fett weg: die Linken, die Rechten, die Alternativen, die Konsumenten, die Frauen, die 68er, die Kommunisten, die Schützenvereine, die Kirchen, die Mediengesellschaft, die Jugend, die Friedensbewegung, die Kapitalisten und die Sensationspresse. Kein Stein im Wertegebäude bleibt auf dem anderen, gnadenlos wird alles hinterfragt, eine bösartige Spitze folgt der nächsten, nur die Zielrichtung wechselt, manchmal so schnell, dass es zum Schwindeln ist.
Faszinierend, wie sich Rebers scheinbar ohne Plan durch seine Assoziationsketten hangelt, vom Hölzchen aufs Stöckchen, hier wie dort Geschichten erzählt, tagesaktuelle Bezüge einflechtet, Bibelzitate loslässt – und plötzlich ist er, kaum nachzufolgen wie, wieder schlüssig am Ausgangspunkt angelangt. Dramaturgisch wirkt das leicht und trotzdem dicht, er fesselt das Publikum und lässt es keine Sekunde aus, fordert höchste Konzentration und belohnt mit grenzgenialen gedanklichen Winkelzügen.
Parodistisch stark lässt er Figuren entstehen, die er zugleich wieder aufs Korn nimmt: die alleinerziehende Grüne mit esoterisch-alternativem Gehabe, den Überbringer der Heilsbotschaft mit heftigem S-Fehler, den Wahlkampfpolitiker und immer wieder einen Hitlerverschnitt, der die Nackenhaare sich aufstellen lässt. Zwischendurch leitet die Aufforderung „wir wollen singen“ zu musikalischen Einlagen über. Rebers ist ein exzellenter Pianist, seine Liedtexte sind weniger scharf als beobachtend und machen betroffen, manchmal still – oder lösen begeistertes Staunen aus, wie die unvermutete Herbert-Grönemeyer-Parodie zum Thema „Hosenanzug der deutschen Kanzlerin“.
Und was ist jetzt die Botschaft? Die Frage steht am Schluss, nachdem das Wertehaus in sich zusammengefallen ist, keine Sicherheit mehr vorhanden ist. Rebers Antwort heißt: die Liebe. Dass hier keinerlei Sentimentalität, auch kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit entsteht, dass selbst die Ernsthaftigkeit seiner Antwort in ein Augenzwinkern eingebettet ist und nichts Bekehrendes haben will, dass jetzt nicht mehr der glühende Reverend, sondern der Mensch im Vordergrund steht, macht den Abschluss sympathisch unspektakulär und steht in krassem Gegensatz zu dem marktschreierischen Wertekaufhaus, das der Kabarettist in fast drei Stundenvorgeführt hat.