... wie die Jungfrau zum Kind
THEATER (OFF)ENSIVE / AGNES
07/10/10 Ob es der Heilige Geist war, oder ein Engel oder doch nur ein Landarbeiter, der die junge Nonne geschwängert hat - das ist völlig nebensächlich. „Agnes“, die jüngste Produktion des Theaters (Off)ensive, ist ein vom ersten Moment an packendes Kammerspiel für drei grandiose Schauspielerinnen: Julia Gschnitzer, Alexandra Tichy und Katharina Gritzner bescherten dem Publikum in der TriBühne Lehen einen spannenden Theaterabend.
Von Heidemarie Klabacher
Die Zelle der jungen Nonne war blutbeschmiert, im Papierkorb lag ein totes Neugeborenes. Und Agnes, Schwester Agnes, erinnert sich an nichts. Mutter Miriam, die Äbtissin, und Dr. Livingston, die Psychiaterin, sind beide fasziniert von der Unschuld und Weltentrücktheit der jungen Frau, möchten sie - jede auf ihre Art - beschützen. Und vor den Folgen bewahren. Den Folgen wovon? Eines Bruchs des Keuschheitsgelübdes? Eines zerissenen Gespinstes aus Lüge und Täuschung? Vor den Folgen einer Kindheit mit Missbrauch und Gewalt (diesmal ist es die Mutter, und Geistlicher ist auch keiner involviert - dies nur nebenbei.)
Julia Gschnitzer als Mutter Miriam will ihre Novizin in der Sicherheit des Klosters wissen und weiterhin an deren Unschuld glauben. „Wenn sie sich nicht einmal an die Geburt erinnern kann, wie soll sie sich da an die Zeugung erinnern?“ Doch Alexandra Tichy als Dr. Livingston bringt in Psychoanalyse und Hypnose Teile des Geheimnisses ans Tageslicht.
Man könnte jetzt viel davon erzählen, wie die beiden erwachsenen Frauen, die alte Nonne und die erfahrene Ärztin, in der jungen Frau eine Projektionsfläche eigener Sehnsüchte, aber auch eigener Verletzungen, sehen und sie ihrerseits als „Heilmittel“ missbrauchen. „Nimm mir nicht die Stimme des Engels weg“, sagt die Äbtissin zur Ärztin. Sie wollen an Agnes Unschuld selber gesunden, sei es im verlorenen Glauben oder der versäumten Chance auf Mutterschaft.
Auch die theologischen Spekulationen haben ihren Reiz. Besonders die Überlegungen der Raucherin Livingston und der Ex-Raucherin Mutter Miriam, welche Heiligen wohl welche Zigarettenmarke geraucht hätten (Ignatius von Loyola Camel, die Apostel Selbstgedrehte).
Das Stück von John Pielmeier „Agnes of God“ gibt reizvolle Denksportaufgaben. Gratulation der Theater (Off)ensive, dass sie sich die Österreichische Erstaufführung sichern konnte. Klug erdacht die Bühne von Jan Hax Halama, der mit schlichten weißen Papierbahnen das Gefühlt Intimität und Abschottung gleichermaßen vermittelt.
Das Spannende an diesem Theaterabend in der Regie von Alex Linse aber war - bei allem inhaltlichen Reiz - die schauspielerische Leistung ganz ohne „Kostüm und Maske und Requisite“: Hier kam die Schauspielkunst als solche zu ihrem Recht. Die 79 jährige Julia Gschnitzer hat eine überwältigende Präsenz, eine brillante Sprache, feinen Witz und Understatement in jeder ungehaltenen Geste.
Alexandra Tichy ist mit jeder Faser die moderne Frau, die an der Schwelle zum „Älterwerden“ (wann immer das heutzutage ist), sich jener Verletzungen und Versäumnisse bewusst wird, die mit Selbstbewusstsein allein nicht länger zu verdrängen sind.
Und Katharina Gritzner ist eine junge Nonne wie aus dem Bilderbuch. Dabei übertreibt sie als Agnes nie mit ihrer weltentrückten Unschuld, sondern liefert ein Gegenbild zu Aufklärung und Vernunft, an dem sich die Informationsgesellschaft die Zähne ausbeißt. Grandios - alle drei Damen.