Lehrreiches Theater in Zeiten der Sparsamkeit
SCHAUSPIELHAUS / ANDORRA
04/10/10 „Andorra“ von dem Schweizer Max Frisch ist ein sehr leerreiches, nein, lehrreiches Stück. Es ist wahrscheinlich das lehrreichste deutschsprachige Stück, das nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben worden ist. Deshalb muss „Andorra“ in der Schule unbedingt „durchgenommen“ werden.
Von Werner Thuswaldner
Viele Schulklassen können es jetzt auch anschauen, denn am Sonntag hatte es im Salzburger Schauspielhaus Premiere, und bis 20. Oktober findet fast jeden Tag eine Aufführung statt. So lehrreich ist „Andorra“ deshalb, weil darin gezeigt wird, dass es verwerflich ist, Vorurteile zu haben und dass es böse enden kann, wenn jemand auf Grund von falschen Vorurteilen ausgegrenzt wird. Andorra ist in dieser Parabel vielfach als Frischs Heimatland, die Schweiz, gedeutet worden. Dort hat man sich während des Weltkriegs vor einem Einmarsch der Deutschen gefürchtet, einen mehr oder weniger moderaten Antisemitismus gepflegt und im Übrigen, wie inzwischen bekannt ist, sehr gut am Krieg, am Unglück der anderen, verdient.
Die Andorraner, repräsentiert durch ein paar Typen, den Wirt, den Tischler, den Pfarrer, den Soldaten und den Amtsarzt, ätzen gegen Andri, dem angeblich angenommenen Sohn des Lehrers, weil es von ihm heißt, dass er ein „Jud“ sei. Das stimmt nicht.
In Wirklichkeit ist er der Sohn des Lehrers, der sich schämt, dies zuzugeben, weil die Mutter eine aus dem benachbarten Feindesland ist. Das führt zwangsläufig zu Komplikationen, denn Andri will die Tochter des Lehrers heiraten, von der er nicht weiß, dass sie seine Schwester ist. Andri wird so lang eingeredet, dass er ein „Jud“ sei, bis er es selbst glaubt und diese Rolle annimmt. Die Spannungen eskalieren, zuletzt wird Andri umgebracht.
Manches in dem Stück erscheint reichlich konstruiert. Leider sorgt Christoph Batscheiders Inszenierung nur bedingt für Plausibilität. So etwa gerät der Schluss völlig verkorkst. Es befremdet, wie plötzlich Andris Mutter auftaucht – mit Trolly, wie auf der Durchreise –, ein paar unergiebige Dialoge führt und wieder verschwindet. Dann ist zu ahnen, dass die Feinde einmarschiert sind. Aber es wird nicht gezeigt, dass nun unter den Bewohnern eine Selektion vorgenommen wird. Ein „Judenschauer“ sieht sich die Leute genau an. Das passiert nicht. Mehr Klarheit täte dringend not.
Bemerkenswert ist, wie sich die Inszenierung dem Ideal des „Armen Theaters“, das der Pole Grotowski erfunden hat, annähert. Sparsamkeit scheint hier die oberste Forderung zu sein. Man kann sich vorstellen wie das Herz in der Brust eines jeden Kulturausschuss-Mitglieds des Gemeinderats angesichts dieser vorbildlich sparsamen Inszenierung hüpft. Durch Striche werden nicht nur Text, sondern ganze Rollen eingespart. Für den Wirt und den Pfarrer braucht es nur einen Schauspieler (Marcus Marotte), für den Tischler und Amtsarzt auch nur einen (Olaf Salzer). Der Lehrer (Antony Connor) torkelt mit hängendem Kopf durch die Szene und drückt Erklärungsnotstand aus.
Das Bühnenbild (Vincent Mesnaritsch) besteht aus einem Haufen Stühle. Stühle sind vielseitig anwendbar. Die Wände sind schwarz. Die Tochter des Lehrers, Bablin (Alisca Baumann) kommt nicht dazu, sie zu weißeln, wie es der Autor gerne hätte, weil Weiß die Farbe der Unschuld ist. Zwei Plastikeimer – sie sind gratis im Supermarkt zu haben – und ein Megaphon sind die Requisiten. Der Wirt putzt ein Glas, lang, in zwei Szenen putzt er dasselbe Glas. Ein Wirt, der auf Reinlichkeit Wert legt. Wem ist es eingefallen, mit Heavy-Metal-Foltermusik während der Szenenwechsel Effekt zu machen versuchen?
Die Darsteller tun ihr Bestes. Thomas Pfertner agiert als Andri wirklich sehr engagiert. Er macht daraus einen Unglückscharakter, der immer wieder an Woyzeck erinnert. Alles in allem ist aber so diesem Schulklassiker nicht beizukommen. Wahrscheinlich müsste wenigstens die Attitüde des erhobenen Zeigefingers gemildert werden. Die nächste Stufe der Sparsamkeit ist das Lesedrama auf leerer Bühne.