Phantasiereise zu Wasser, Luft und Land
THEATER ECCE / HARUN UND DAS MEER DER GESCHICHTEN
01/10/10 Eine Malerleiter. Dazwischen Jurek Milewski auf dem Einrad. Links und rechts zwei Besenstangen, die das Einrad mittels Hebelwirkung zum Schweben bringen. Es wird gestrampelt und mit den Besenflügeln geschlagen - und die Phantasie hebt ab.
Von Heidemarie Klabacher
Es gibt viele zauberhafte Bilder und geheimnisvoll zaubrische Effekte in der neuen Produktion des Theater ecce im Odeion. Aber der turbulente Flug des mechanischen Wiedehopfs und die Luftreise mittels Fantasie-Antrieb ist ein Höhepunkt. Obwohl - nach der Landung auf dem Wasser - die Verwandlung in ein Ruderboot nicht weniger effektvoll ist: Aus der Spitze der A-Leiter wird der Bug, aus den Besenflügeln werden Ruderblätter. Schon schwankt der Nachen sanft auf den Wellen über das Geschichtenmeer.
Weil wir grad bei den Verkehrsmitteln im Zaubermärchen sind: Auch die Autobusfahrt mit Harun und seinem Vater, dem Geschichtenerzähler mit Erzählhemmung, auf den Gebirgspass hinauf ist ein turbulentes Ereignis: Zwei lange Stangen auf den Schultern des Ensembles reichten bei der Premiere am Donnerstag (30.9.) für blaue Flecke auf der Vorstellungskraft.
Ganz besonders still und geheimnisvoll ging es dagegen bei einem Tauchgang des Knaben Harun (hinreißend: Christine Winter) zu: Nur das Licht ändert sich, wird zu einem grün-türkisen Unterwasserblau, die Bewegungen der hervorragenden Darstellerin und Tänzerin vermitteln überzeugend das Gefühl vom Schweben unter Wasser.
Das Theater ecce bringt "Harun und das Meer der Geschichten", nach dem Roman von Salman Rushdie als deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne im Odeion. Reinhold Tritscher zeichnet für die Gesamtleitung, für Inszenierung und Choreographie Wolf Junger. Das Besondere an dieser Produktion ist - neben der Vielschichtigkeit des ebenso politischen und gesellschaftskritischen wie märchenhaften Stücks - die Verwendung von akrobatischen und „circensischen“ Elementen.
Wenn zwei um einen Ball raufen wird daraus ganz selbstverständlich eine kleine poetische Jonglage-Nummer. Dass Harun auf den Schultern seiner treuen Begleiter Wasser-Dschinn (Jurij Diez) und Wiedehopf (Jurek Milewski) balancierend die letzten Meter der Zwielichtzone durchquert, wundert überhaupt nicht.
Worum geht’s? Harun ist der Sohn des Geschichtenerzählers Raschid Kalifa („Harun al-Rashid“ kommt dabei heraus, der Name des legendären Kalifen aus 1001 Nacht, der als historische Person recht blutrünstig gewesen sein soll). Raschid jedenfalls wird von seiner Frau verlassen und verliert prompt die Gabe des Erzählens. Der Erzählwasser-Hahn soll ihm abgedreht werden („Vorgang zu schwierig zu erklären“ kommt unter der Abkürzung „VZSZE“ mehrmals im Stück vor). Der Knabe Harun will verhindern, das der Wasser-Dschinn den Hahn der Geschichten-Wasserleitung endgültig mitnimmt. Er wird auf seiner Abenteuerfahrt mit dem Vater in den Krieg zwischen dem Land, wo die Geschichten herkommen, und dem düsteren Land, wo ewiges Schweigen herrscht, hineingezogen. Sogar das Meer der Geschichten ist in diesem Krieg schon vergiftet worden…
Aus „Phantasien“, dem Reich Michael Endes in der „Unendlichen Geschichte“, darf man nur wieder hinaus, wenn man alle Geschichten, die man angezettelt, auch zu Ende geführt hat. Bastian Balthasar Bux kommt ganz zum Schluss beinahe in echte Schwierigkeiten. Harun Kalifa, der Held von Salman Rushdie, hat es eine Spur leichter: Er kehrt zusammen mit dem Vater Station für Station zurück in die Realität - die am Ende fast zu schön ist um wahr zu sein.
Das dauert natürlich seine Zeit - und einige Längen sind der Produktion nicht abzusprechen. Zudem ist Manches auch aufgrund der Akustik im Odeion nicht immer gut zu verstehen. Aber das trübt nicht die Freude!
Die professionellen Schauspieler, die Mitglieder der Laube Theaterwerkstatt und der Blauen Hunde mit ihrer unbändigen Spiellust, die Bühnenmusiker, die mit klangsinnlichen Effekten überraschen, Hilde Böhm und Nora Frankhauser, die die märchenhaften und fantasievollen Kostüme entworfen haben, Alois Ellmauer, von dem wieder die raffinierte Bühne ist: Sie alle haben ein Märchen-Gesamtkunstwerk geschaffen. - Und mit den plappernden Hohlköpfen, den eitlen Politikern und düsteren Despoten zugleich der Gegenwart einen Spiegel vorgehalten. Gratulation.