Sozialkritik statt Sozialromantik
SCHAUSPIELHAUS / PÜNKTCHEN UND ANTON
18/06/10 Gottfried Klepperbein ist - trotz seiner Jugend - nur ein gewöhnlicher junger Schuft. In der Regie von Bernadette Haidegger wurde aus der fiesen Petze eine geradezu dämonische Doppelfigur: „Pünktchen und Anton“, die letzte Produktion im Schauspielhaus, ist einer der Höhepunkte der Saison.
Von Heidemarie Klabacher
Schon in der Kästner-Verfilmung von Caroline Link aus 1999 ist Klepperbein in zwei Burschen aufgeteilt. Die sind aber harmlos, gegenüber den beiden Typen in Schwarz, die - ungreifbar wie Schatten und geschmeidig wie Tänzer - die Bühne beherrschen. Angst und Bang werden kann einem um den braven - wenngleich mutigen - Anton, wenn die beiden in exakt gespiegelter Choreographie auftauchen und ihre Erpresser-Show abziehen. Zum Glück reicht dann doch eine kräftige Watschn - Ohrfeige! Wir sind ja in Berlin - und das dämonische Doppelgesicht Benjamin Lang/ Maximilian Pfnür verschwindet.
„Pünktchen und Anton“ auf der Bühne hat gegenüber dem Buch den Vorteil, dass einem die geradezu aufdringlich pädagogisch-charismatischen „Nachdenkereien“ erspart bleiben (obwohl Kästner eh schreibt, dass man sie überblättern und trotzdem der Geschichte folgen kann).
Anton ist da wie dort ein Musterknabe, der sich trotzdem nichts bieten lässt. Er hat Mut, Stolz, Selbstbeherrschung, jeweils von der richtigen Art: Christoph Griesser hat diesen Kästner’schen Idealtypus auf ein heutzutage erträgliches Maß gebracht. Sandra Marina Müller ist ein liebenswürdig freches Pünktchen: Das vernachlässigte und zwielichtigen Gouvernanten ausgelieferte Mädchen Luise Pogge aus schwerreichem Hause hat das Herz ebenfalls auf dem rechten Fleck und lässt sich ebenfalls von niemandem etwas gefallen: zwei Kinder zweier Sphären, die sich wohl nur beim Betteln auf der Weidendammer Brücke begegnen konnten. Die Motive sind freilich recht verschieden.
Bernadette Heidegger hat in ihrer Inszenierung sehr behutsam Kästners Heile-Welt-Szenario, eine fast schon ins groteske Übersteigerte Sozialutopie, mit wenigen Pinselstrichen in ein ziemlich gesellschaftskritisches Gegenwartsstück verwandelt: Die Kinder zweier Welten träumen davon, dass sie künftig - vielleicht - alle miteinander in der riesigen Villa Pogge leben werden, die kranke Mutter Antons gesund und die egoistische Mutter Pünktchens statt in den Kleiderschrank gelegentlich auch mal nach ihrer Tochter schauen wird. Während dieser rührenden Balkon-Szene (im ersten Stock) liefern sich die Eltern Pogge unten einen stilisierten stummen Ehekampf, der nicht darauf schließen lässt, dass auch nur der kleinste Wunsch der Kinder in Erfüllung gehen wird.
Trotzdem ist diese Kästner-Variante im Schauspielhaus keine Kindertragödie. Allein die Auftritte von Nevena Lukic, als loyale dicke Köchin Berta, garantieren beste Unterhaltung.
Slapstic und Witz kommen in flottem Tempo und schwungvoller Choreographie daher. Durch die äußerst flexible Ausstattung von Alexia Engl entwickel sich zusätzlicher Drive: Ein paar bewegliche Türstöcken (vor der türenreichen Kulisse zum „Diener zweier Herren“) deuten jeweils in sekundenschnelle und unverwechselbar von der Weidendammer Brücke bis zum Speisezimmer in der Villa Pogge alle Schauplätze an. Die Choreografie von Marion Hackl und die mit Hilfe von Fabio Buccafusco ausgewählte Music tragen ebenfalls zum Schwung dieser hervorragenden Produktion bei.