Utopien sind keine Spinnereien
ARGE KULTUR / stART FESTIVAL AKTUELLER MUSIK / UTOPIEN
25/05/12 Der Mensch ist eine Klaviertaste. Ja genau, eine Klaviertaste: Nicht fähig, selbst zu entscheiden und zu handeln, sondern darauf angewiesen, „angeschlagen“, in Bewegung gesetzt, in Schwung gebracht zu werden. Umso erfreulicher, wenn die Klaviertasten plötzlich von selbst trillern.
Von Heidemarie Klabacher
Geister-Tasten als Bild für die Verwirklichung der Utopie vom selbst bestimmten Menschen? Nicht wirklich. Wenn es auch kein Unbewegter Beweger ist, der die Tasten des Steinways in der ARGE zum Trillern bringt, ist es doch ein Programmierer. Und aus ist es schon wieder mit der Utopie von der Utopie.
Nach neuen Ufern, nach Utopien für eine Welt nach der Krise, hält das stART-Festival aktueller Musik heuer Ausschau. Das vormalige kleine Festival zeitgenössischer Musik stART hat sich in den letzten Jahren ja gewandelt. Eine musiktheatralische Eigenproduktion der ARGEkultur steht jeweils auf dem Programm: „Utopien“ hatte gestern Donnerstag (24.5.) seine Generalprobe mit Presse und feiert heute Freitag (26.5.) im Saal der ARGE seine Premiere. Das Stück besteht aus Teilen mit je einem Text von drei Autoren und Kompositionen von Marco Döttlinger, Amr Okba und Shahriyar Farshid – drei Auftragswerken der ARGE. Das Konzept zu „Utopien“ erstellten Alexander Kraus vom Österreichischen Ensemble für Neue Musik oenm und ARGE-Leiter Markus Grüner-Musil. Es spielt das oenm unter der Leitung von Hideto Nomura.
Was im Prolog passiert, soll hier nicht verraten werden. Das ist tatsächlich überraschend. Nur soviel: Klösterlich geht es zu. Das Publikum sitzt an einer großen Refektoriumstafel (muss aber nicht mitspielen, keine Angst).
Einer erhebt irgendwann Stimme und Glas auf Utopia: auf das ideale Staatswesen der Handwerker und der Gelehrten, die Maß und Ziel kennen, aber weder Glückspiel noch Völlerei. Hat ein Bürger von Utopia sein Gewand nach sieben Jahren verschlissen, erhält er ein neues; aus Gold (tauglich weder für Schwerter noch für Pflugscharen) werden Nachtgeschirre und Sklavenketten gemacht; alle schweren Verbrechen werden mit Sklaverei bestraft (das nützt dem Gemeinwohl mehr, als der Tod des Verbrechers). Christian Sattlecker hält diese Rede des Bürgers von Utopia: literarisch und sprechtechnisch der überzeugendste der drei Teile. Dieser Monolog folgt der „Utopia“ von 1516 von Thomas Morus, eingerichtet wurde er von Andreas Schachermayr und Elisabeth Skokan.Dazu gehört die schillernde Musik von Marco Döttlinger, bei der die Pianistin einmal aufsteht, in Überseinstimmung mit der Komposition an die Wand zu schreiben beginnt – und das Klavier alleine trillert (kurz).
Ein weiterer Gast an der Tafel erhebt sich. Fließend ist der Übergang zu Markus Köhle und seiner „Utopie mal Daumen“, die viele originelle Wendungen (Utobist du gscheit, hab ich blöd geschaut) enthält, aber auch ziemlich viele gut gemeinte Anregungen zur Herstellung einer besseren Welt, in der jede Arbeit gleich viel wert wäre und alle das machten, was sie am besten können. Klarinette spielen etwa: Amr Okba hat eine Art Solo-Rondo geschrieben, in dem immer wieder die Klarinette von Andreas Schablas im Mittelpunkt steht. Neben der Brillanz der musikalischen Wiedergabe de oenm fielen die sprechtechnischen Schwierigkeiten dieses Redners doch einigermaßen auf.
Von geradezu oberschülerinnenhaftem Sendungsbewusstsein geprägt ist der Beitrag von Mieze Medusa, die als dritte Rednerin das Wort UTOPIE zu buchstabieren anhebt. Hat sie doch glatt für das „P“ und das „I“ den Satz „Probier dich aus“ gefunden! Dieses Leitmotiv, dieser Refrain beginnt mit der Aufforderung „Zieh das U lang“. Das hilft der Welt sicher. Die Strophen – liebenswürdig mit sanfter kaum je einmal gehobener Stimme gesäuselt – bringen Erkenntnisse wie „Die Utopie ist ein Schlüsselkind, sie kommt heim nach der Schule, wärmt sich das Essen selbst, schaltet den Fernseher ein, die Eltern haben keine Zeit für sie…“ Dazwischen erklingt jeweils die unentwegt in kleinen Motiven in sich selbst kreisende Musik von Shahriyar Farshid, die besonders dem Cello von Peter Sigl große Intensität verlangt.
Die Welt wird nicht anders werden nach diesen „Utopien“. Aber wie Markus Grüner-Musil sehr richtig sagt: „Utopien sind keine Spinnereien.“