Schwerelose Poesie, gewiss nicht von der Stange

WINTERFEST / CIRCO ZOÉ

27/12/23 Ein Schuh fällt vom Himmel, ein Sakko ebenso. Mit erheblicher Mühe steigt ein Mann auf einer Strickleiter aus der Zirkuszelt-Kuppel herab. Ein rechter Tollpatsch, wie es aussieht. In welcher Welt landet dieser Typ? Wirr wirkt sie anfangs und unübersichtlich. Aber sie macht von der ersten Sekunde an neugierig.

Von Reinhard Kriechbaum

Neugierig beobachtet auch der Fremdling von oben diese Zirkus-Erdlinge. Deren Interaktion hält sich anfangs in Grenzen. In dem in geheimnisvolles Sfumato getauchten Zelt-Rund gehen drei Frauen und drei Männer um. Eine Frau scheint sich in einem zur engen Röhre gerollten, aus dicken Seilen geknüpften Netz verfangen zu haben.

Gleich vom Beginn an ist klar, dass die Musik in dieser Produktion des Circo Zoé eine ganz entscheidende Rolle spielen wird. Sie ist rockig grundgetönt. Der E-Gitarrist und der Schlagzeuger (der gelegentlich auch zum Akkordeon greift) sitzen dort, wo eben eine Zirkuskapelle traditionellerweise Platz nimmt. Aber was lassen die beiden hören! Lustvoll greifen sie Musikstile auf und verwandeln sie auf höchst individuelle Art. Sogar eine Sängerin geht um in der Manege, und die scheint einer Barockopern-Bühne entsprungen zu sein. Aber Barock wird in dieser Umgebung auch schnell zur knalligen Rocknummer.

Wie nebenher hebt eine Artistin an, eine Stange hochzuklettern. Toll, was die drauf hat. Die anderen tun es ihr gleich. Jeder in dieser Gruppe hat seine Talente. Der Mann auf dem Cyr Wheel – einer Art Rhönrad, allerdings nur mit einem einzigen Reifen – macht gehörig Effekt. Aber auch die Trapezeinlagen fordern Respekt ab. Einer ist mit Skiern unterwegs, und was er vorzeigt, hat mit Tanz mindestens ebenso viel zu tun wie mit Artistik. A propos Tanz: So beiläufig sich so manche artistische Einlage einschleicht, ist die Sache doch perfekt choreographiert. Plötzlich vergessen alle ihr Einzelgängertum, und dann ist Ausdruckstanz angesagt.

Auf was für eine Geschichte könnte das hinauslaufen? Die Produktion des Circo Zoé, dem italienische und französische Künstlerinnen und Künstler angehören, kann man keinem Genre zuordnen. Da kommen eben ganz verschiedene Talente zusammen. Die Artistik ist logischerweise ein verbindendes Element, aber eben nur ein Aspekt in diesem anregend-rätselhaften Spektakel.

Deserance ist der Abend überschrieben. Das Wort kann man nicht im Wörterbuch nachschlagen. Désir steckt drin, Résistance und Désert. Verlangen, Widerstand, Wüste? Hilft auch nicht wirklich weiter. Jeder im Publikum ist herausgefordert, sich seine je eigene Deutung zurecht zu legen.

Befreiend wirkt, dass es keineswegs todernst zugeht. Vor allem der staunende, etwas unbeholfene Besucher von oben sorgt für so manches burleskes Intermezzo. Aber so ungelenk sich dieser Typ im grauen Sakko anstellt, entpuppt er sich schließlich als sagenhafter Traumtänzer auf dem durchhängenden Seil, während die Sängerin Händels Gassenhauer-Arie Lascia ch'io pianga anstimmt. In Wirklichkeit gibt’s da nichts mehr zu weinen, denn allmählich geben alle ihren Individualismus auf, scheinen zusammen zu wachsen.

Die Dame, die anfangs so feine Figuren an der Stange vorgeführt hat, wird diese zuletzt gemeinsam mit einem Partner erklimmen. Er ist ein Spezialist für verwegenes Sturz-Rutschen kopfüber. Wie er nur ein paar Zentimeter über dem Boden doch noch abbremst, lässt die Zuseher fast das Blut in den Adern gefrieren. Er versteht sich aber auch darauf, sich nur mit den Beinen festzuklemmen an der Stange und in Figuren mit seiner Partnerin der Schwerkraft scheinbar ein Schnippchen zu schlagen. Schwerelose Poesie, aber gewiss nicht von der Stange.

Bis 7. Jänner 2024 im Zelt im Volksgarten – www.winterfest.at
Bilder: Winterfest / Magdalena Lepka