Das Evangelium der Rechtsradikalen

WIEN / PLAYING EARL TURNER

19/93/24 Neun Morde an Menschen mit migrantischem Hintergrund, ein Polizistenmord, zwei Sprengstoffanschläge, fünfzehn Raubüberfälle, 43 Mordversuche gingen zwischen 1999 und 2007 auf das Konto der ultrarechten deutschen Terrorgruppe NSU – Ein Theaterstoff?

Von Reinhard Kriechbaum

Playing Earl Turner heißt das Stück der Wiener Theaterleute Laura Andreß und Stefan Schweigert. Es wurde wegen Corona 2022 erst als Theaterfilm realisiert und im gleichen Jahr zum Fast Forward Festival für junge Regie ans Staatsschauspiel Dresden eingeladen. Jetzt erlebt es im Theater am Werk in Wien am Petersplatz die erste szenische Aufführungsserie.

Von 2013 bis 2018 dauerte der in München geführte Prozess gegen fünf NSU-Leute. Die als einzige zu lebenslänglicher Haft verurteilte Beate Zschäpe war bekanntestes Mitglied der Terrorzelle, deren Mitglieder aus Thüringen und Sachsen kamen. Während des Monsterprozesses ist auch viel Kritik laut geworden, an den Ermittlungsbehörden und am Verfassungsschutz. Warum beispielsweise wurde so wenig nach Mittätern und Netzwerken gefragt?

Die Wiener Theaterleute Laura Andreß und Stefan Schweigert trieb die Frage nach dem ideologischen Unterbau der NSU-Täter um. Ein Profiler des CIA hatte den deutschen Behörden nämlich bereits 2006 den Hinweis auf ein Buch gegeben, das unterdessen in der rechtsradikalen Szene als Evangelium gehandelt wird: Turner-Tagebücher, ein Roman des amerikanischen Nationalsozialisten William L. Pierce. Die deutschen Ermittlungsbehörden verwarfen damals diesen wertvollen Hinweis. Nicht nur dem NSU diente das Buch als Blaupause für seine Verbrechen. Viele rechte Terroristen hatten die Turner-Tagebücher im Regal stehen oder auf der Festplatte abgespeichert. Bis hin zum Oslo-Attentäter Anders Breivik.

Rasant geht es im Stück durch mehr als vierhundert Prozesstage, eingedampft auf sechzig Minuten. Ein Kubus aus Neonröhren ist der imaginäre Zeugenstand. Die drei Performer Simon Dietersdorfer, Nora Jacobs und Simon Mantei wechseln die Rollen so schnell wie die Hemden und Pullover. Sie sind Vernehmer oder Verhörte. Sie sind insistierende Richter und Staatsanwälte oder Verbindungsleute, die zwielichtige Rollen einnehmen zwischen der ultrarechten Szene und dem Verfassungsschutz. Wir hören und sehen Helfershelfer der Terroristen, die jetzt ihre Rollen herunterspielen, aber auch tatsächlich arglose Augenzeugen. Und all diese Leute verschwimmen mit Figuren aus den Turner-Tagebüchern. Aussagen aus dem Prozess sind interpoliert mit Zitaten aus dem Buch. Dann werden die Stimmen elektronisch verfremdet.

Eine elektronische Variante analog-rasselnder Buchstabentafeln macht optisch etwas her in der Blackbox. Damit man sich einigermaßen auskennt, werden die Namen der jeweiligen Protagonisten und das Vernehmungsdatum an die Wand projiziert, aber grundsätzlich geht es darum, dass in schneller Abfolge die Identitäten ineinander fließen.

Was mag diese Menschen bewogen haben, sich zu radikalisieren, was haben sie wirklich aus dem amerikanischen Neonazi-Buch herausgelesen und eins zu eins radikal umgesetzt? Was mag ihre Unterstützer bewogen haben, einfach mitzumachen, Wohnungen zum Untertauchen zur Verfügung zu stellen, angeblich ohne viel zu hinterfragen?

In den Hintergrundprojektionen kann man die drei Protagonisten bei ihren konspirativen Treffen beobachten. Als rötliche schemenhafte Silhouetten zuerst, dann sich konkretisierend, als reale Figuren mit maskierten Gesichtern. Gegen Ende wird einer selbst mit einer solchen Maske im leuchtenden Kubus dastehen.

Der kurze Theaterabend hat Stil, hat Form – was genau ist aber das Ziel? Dass Terrorzellen nicht aus dem Nichts wachsen, das hat sich nicht erst vor ein paar Monaten wieder bestätigt, als als die Rechercheplattform Correctiv die geheime Potsdam-Konferenz hat auffliegen lassen. Und nachdem Recherchen jüngst ergeben haben, dass mehr als hundert Rechtsextreme im deutschen Bundestag zugange sind, verwundert es keineswegs, dass die Flut von Wort-Nebelgranaten im schier endlosen NSU-Prozess nicht nur Exekutive und Richterschaft ins Schleudern gebracht hat, sondern von Seiten der "Staatsmacht" aus welchen Gründen auch immer mit befeuert worden ist. So gut gemeint das Dokumentartheater Playing Earl Turner ist, muss man auch zugeben: Theater hinkt der rechtsdrehenden Wirklichkeit unserer Tage fast zwangsläufig hinterher.

Aufführungen bis 23. März im Theater am Werk, Wien, Petersplatz – www.theater-am-werk.at
Bilder: Theater am Werk / Ali Andress