Gott hat keine Giftgasfabrik

GRAZ / DER NEBEL VON DYBERN

12/02/24 Fast möchte man selbst die Nase prüfend in die Luft strecken. Könnte Der Nebel von Dybern durch Türspalten auch in den Theaterraum dringen? Die Produktion dieses Dramas von Maria Lazar (1895-1948) im Grazer Schauspielhaus ist ein weiterer Schritt zur Rehabilitierung dieser hellsichtigen jüdischen Autorin, deren Karriere das Nazi-Regime den Garaus bereitete.

Von Reinhard Kriechbaum

Es ist dicke Luft, zuerst im Wald, wo Tiere und auch Menschen tot umfallen. Nachdem der Wind gedreht hat, erreicht der fatale Nebel auch die Stadt Dybern. Dort wird eilends ein unterirdisch gelegener Kinosaal in ein Lager umfunktioniert, über das eine Heilsarmeeschwester wacht. Der Arzt schlurft mit hängendem Kopf herum. Es ist greifbar, das er etwas ahnt und bald weiß, was die Menschen nicht wissen sollen. Der Generaldirektor der Fabrik trifft sich mit dem Cheftechniker und dem Arzt zur Krisensitzung.

Die Sicht „von unten“ haben wir bereits in der ersten Szene kennen gelernt. „Es ist eine schlechte Luft in der Welt“, wiederholt Mutter Kathrine beharrlich. Das weiß sie nicht aus Zeitungen, sie „hat gute Ohren“. Die schwangere Barbara soll möglichst nicht behelligt werden mit der Gefahr, die da dräut. Ihr Mann, der Wirt Josef, versucht jedenfalls nach Kräften, die Lage schönzureden. Der aufrührerische Fabriksarbeiter Jan ist nicht bereit, die Sache einfach hinzunehmen. Während andere bereit sind, den todbringenden Nebel fatalistisch als gottgesandte Prüfung hinzunehmen, äußert er einen konkreten Verdacht: „Eine Stickstofffabrik ist kein Kinderspielplatz.“ Und sowieso bahnt sich die Erkenntnis an: „Gott hat keine Giftgasfabrik.“

Die einer jüdischen Wiener Familie entstammende Autorin Maria Lazar, die 1948 im schwedischen Exil Suizid beging, wird neuerdings als hellsichtige Autorin erkannt und rehabilitiert. Im Vorjahr hat Maria Bihler im Akademietheater mit der Dramatisierung des Romans Die Eingeborenen von Maria Blut (1937 in Dänemark entstanden, veröffentlicht unter Pseudonym) Furore gemacht. Da geht es um das Raumgreifen des Nationalsozialismus. Das Drama Der Nebel von Dybern wurde 1933 in Stettin uraufgeführt, eine geplante Premiere im selben Jahr im Grazer Schauspielhaus kam nicht mehr zustande. Im Vorjahr wurde das Stück im Wiener Theater Nestroyhof aus der Versenkung geholt. Nun wird es also in Graz herausgestellt.

Der Nebel, das wird schnell klar, ist Giftgas, frei gesetzt in einer Fabrik. Vertuschung ist angesagt. Es geht nicht um die Katastrophe selbst. Die Autorin beschreibt mit präzisem Blick das Verhalten der Menschen im Umgang mit einer solchen Katastrophe. Es sind wohl dieselben psychologischen Mechanismen, die uns daran hindern, im Schulterschluss mit Entschiedenheit gegen menschenverursachten Klimawandel vorzugehen. Das macht das Stück beängstigend aktuell. Die Katastrophe führt, so Maria Lazars Botschaft, eben nicht zu einem kollektiven Aufbegehren, sondern zur Zersplitterung. Das ist in diesem Theatertext mit Brecht'scher Klarheit (und durchaus auch mit dessen Fatalismus) aufgefächert.

Der Fabriksdirektor (Tim Breyvogel), sein Chefingenieur Alexis (Simon Kirsch), der diesem Establishment zu nahe stehende Arzt (Sebastian Schindegger) – in diesem Trio infernal spiegelt sich die Bandbreite aus Abwiegelung, Realitätsverweigerung und mangelnder Zivilcourage. Schon fast beängstigend die blindwütig-gottergebene Hingabe der Heilsarmeeschwester (Anna Klimovitskaya).

Regisseurin Johanna Wehner hat vor allem die Frauenrollen charismatisch besetzt und eindrucksvoll herausgearbeitet. Die schwangere Barbara (Marielle Layher), die von ihrem Mann, dem Wirt Mario Lopatta) systematisch abgeschnitten wird von der Information, bohrt nach und stellt vor allem insistierend die Frage, ob man in eine solche Welt ein Kind setzen darf. Sie wird auch jene sein, die sich vehement wehrt gegen den Generaldirektor, der auf ein Zusammenhalten und karitative Leistung in der Not pocht. Sie nennt die Dinge beim Namen: „Not ist, wenn der Schnee das Dach eindrückt, wenn das Wasser die Mauern wegreißt, wenn die Krankheit den Menschen frisst. Wenn aber der Mensch selber den Menschen frisst, ihm nichts zum Leben lässt, nicht einmal die Luft, das ist nicht Not, das ist Krieg.“ Und sie urgiert Wahrhaftigkeit: „Wenn ein Gerücht nicht wahr ist, sperrt man keine Menschen ein, braucht man kein Militär.“ Eine starke Frau auch die alte Kathrine (Anke Stedingk), man möchte an Kassandra denken.

Johanna Wehner steigert die Eindringlichkeit der Aufführung, indem sie den Ton sachlich hält. Sie erlaubt nur wenig emotionales Aufkochen. Ein Ton sirrt, verdichtet sich zur Harmonie, zur Melodie gar – auch das akustische Environment (Vera Mohrs) arbeitet der Stimmungsverdichtung unmittelbar zu. Der Spielort: eine weite Fläche, links angedeutet nur der Garten vor dem Wirtshaus, rechts ein unansehnliches Firmengebäude, hinten ein gläserner Gang. Unansehnlches Allerweltsdesign. Das rechte Umfeld für Ausweglosigkeit.

Die Katastrophe führt zu gesellschaftlicher Zersplitterung, auch Barbara und Josef entfremden sich. Die weißen Hemdchen für das Neugeborene? „Wir werden sie nicht brauchen“, sagt Barbara, die damit ihre Antwort auf den Zustand der Welt schon gegeben hat.

Aufführungen bis 10. April – www.schauspielhaus-graz.com
Bilder: Schauspielhaus Graz / Lex Karelly