Die Tortur auswegloser Selbstverstümmelung

WIEN / THEATER IN DER JOSEFSTADT / IN DER LÖWENGRUBE

16/03/18 Den österreichischen Dramatiker Felix Mitterer zum 70. Geburtstag im Theater in der Josefstadt ausgerechnet mit seinem Stück „In der Löwengrube“ zu feiern, ist doppelt passend. Hierher gehört nämlich diese Geschichte.

Von Reinhard Kriechbaum

Mitterer verarbeitete die Geschichte vom Schauspieler Leo Reuss, der die Nazis mit einer rechten Schwejkiade hinters Licht führte. Reuss, als Jude ohne die leiseste Chance auf berufliche Betätigung, schlüpfte in eine andere, eine „arische“ Identität. So gelang es ihm, in der vermeintlich judenfreien Josefstadt einige Vorstellungen zu spielen.Wie seine wahre Identität dann aufflog, darüber kursieren unterschiedliche Varianten. Reuss jedenfalls gelang der Weg ins amerikanische Exil. Prominente Leute des Wiener Theaters, von Helene Thimig und Max Reinhardt über Adrienne Gessner und Ernst Lothar bis zu Heinrich Schnitzler (den Sohn von Arthur Schnitzler) waren in die Causa, die gar böse hätte ausgehen können, verwickelt.

Warum ist „In der Löwengrube“, wiewohl angeregt vom damaligen Josefstadt-Chef Otto Schenk, vor zwei Jahrzehnten nicht ebendort, sondern im Wiener Volkstheater uraufgeführt worden? Schien Mitterers Stück Otto Schenk zu starker Tobak für das damals – sagen wir euphemisch: wertkonservative – Publikum? Die Premiere jetzt ist jedenfalls auch eine Wiedergutmachung.

Und was für eine Aufführung! Stephanie Mohr hat in der Josefstadt zuvor schon drei von Mitterer-Stücke inszeniert und das rechte Gespür für die Tiefenschichten in seiner Dramatik entwickelt. Die Plots kommen gerne in banaler Direktheit daher. Das Querdenkerische, das Entlarvende, die Ungeheuerlichkeiten einer sich so unverstellt wie ungeniert offenbarenden Wirklichkeit offenbaren sich erst auf den zweiten oder dritten Blick. Das ist „In der Löwengrube“ nicht anders. 

Hier geriert es sich erst einmal als scheinbar derber Bauernklamauk. Da kommt ein angeblicher Tiroler Tölpel daher, gibt sich voll instrumentalisiert von der Nazi-Ideologie. Unbedingt will er Theater spielen. Den Kaufmann von Venedig vielleicht? Den „Schailockch“, sagt er in breitester Tiroler Mundart, den könnte er viel besser als jeder Jud'. Fast schämt man sich, darüber zu lachen. Doch der Bracchialwitz hat bei weitem nicht einen so langen, falschen blonden Bart wie jener des zum deutschblütigen Bühnen-Musterknaben mutierten Schauspielers. Die Rolle des Arthur Kirsch (so heißt er bei Mitterer) bietet reichhaltige Möglichkeiten - und diese bereitete die Regisseurin mit dem wunderbaren Florian Teichtmeister berührend auf.

Wie traurig dieser falsche Arier hinter seiner folkloristischen Mummenschanz-Verkleidung auf den Erfolg blickt, der ihm von einer tumben Clique quasi in den Schoß geworfen wird. Wundert er sich über das Verhalten seiner Kolleginnen und Kollegen, oder hat er ihnen die amoralischen Torsionen ohnedies schon immer zugetraut? Die geschiedene Frau des Mimen ist die Letzte, die das so wahrhaftige Falschspiel durchschaut, und das ist vielleicht die allergrößte Tragik hinter der Figur des Arthur Kirsch. Florian Teichtmeister macht einsichtig, dass da einer nicht nur die Nazis hinters Licht führt, sondern sich selbst vorzuführen gezwungen ist. Die Tortur auswegloser Selbstverstümmelung.

Mit ähnlicher Akkuratesse sind alle Figuren durchgezeichnet in diesem an Personen reichen Stück. Peter Scholz als Theaterdirektor, zum Harlekin degradiert von den neuen Machthabern, kommt gar nicht heraus aus dem Händeringen und tut es doch mit souveränem Verständnis für die Unabänderlichkeit der Situation. André Pohl ist der Schauspieler-Kollege Polacek, Prototyp des eiligen Mitläufers. Ein deftiger Typ, für den man letztlich doch Mitleid empfindet. Stephanie Mohr arbeitet mit jeder und jedem im Ensemble sehr glaubwürdige Zwischentöne heraus.

Nach der Aufführung hat Felix Mitterer eine Ehrung durch die Gemeinde Wien bekommen, Drei Tage nach dem 80-Jahre-Gedenken an den Anschluss Österreichs und den jubelnden Empfang für Hitler bot das natürlich Anlass, auf das Bedenkliche der gegenwärtigen politischen Stimmungslage im Land hinzuweisen. Vielleicht sollte man, da schon Felix Mitterers Siebziger zu feiern ist, auch möglichst rasch sein Stück „Kein schöner Land“ aufführen, auf möglichst vielen Bühnen. Mechanismen der Machtübernahme durch Nazis im Dorf sind dort anschaulich aufgeschlüsselt.

Aufführungen bis 29. Juni – www.josefstadt.org
Bilder: Theater in der Josefstadt / Moritz Schell