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Lokomotive voraus

HARNONCOURTS SCHUBERT SYMPHONIEN / CD-KRITIK

04/03/22 Auf manchen Aufnahmen kleben unsichtbar Jahreszahl und Ablaufdatum. Nicht so auf Einspielungen Nikolaus Harnoncourts. Wer 1988 seinen Grazer Schubert-Zyklus erlebt hat, war überwältigt. Von der Radikalität vielleicht sogar überfordert. Wer 34 Jahre später die Mitschnitte anhört, ist sprachlos. – Der Todestag des Dirigenten jährt sich am 5. März.

Von Heidemarie Klabacher

1988 hat Nikolaus Harnoncourt mit dem Chamber Orchestra of Europe bei der Styriarte in Graz die Symphonien von Franz Schubert aufgeführt. Wie radikal, erhellend, damals vielleicht sogar verstörend dieser „Zugriff“ damals gewirkt haben muss! Wie brandaktuell und zeitlos modern und weiterhin richtungsweisend diese Interpretationen bis heute sind, zeigt immer wieder eindrucksvoll das First-Release der live-Aufnahmen.

„Das erste Kennenlernen eines Stück mit ihm war spannend, beinahe, als wäre es modern und fremd für unsere Ohren“, schreibt Elizabeth Wexler, damals Geigerin im COE im Booklet der Erstausgabe des so gar nicht „historisch“ daherkommenden Mitschnitts (DrehPunktKultur berichtete). „Manchmal veränderte sich vertraute Musik so sehr, dass wir verwirrt wurden und an einer falschen Stelle spielten.“ Harnoncourt sei immer „sehr zufrieden gewesen“, wenn das geschah, „als habe er uns in einen unverbildeten Zustand zurückgeführt und als wären wir Musiker, die Beethoven, Haydn oder Schubert zum ersten Mal kennenlernten.“

Ähnliches gilt für den Hörer. Dieser Schubert ist „unerhört“. So springt doch höchstens der wilde Grieche aus dem Perma-Frost mit den Werken um – denkt man und nimmt den Gedanken wieder zurück. Nikolaus Harnoncourt sprang nicht um, mit der Musik. Er nahm sie beim Wort.

Die Akribie in kleingliedrigster Phrasierung und größtmöglicher Differenzierung – gern auf eine halbe Bogenlänge – mit der Nikolaus Harnoncourt den Noten die Seele abgelauscht und den Hörer in Mark und Herz und Bein getroffen hat: Viele Konzerte mit Harnoncourt blieben ohnehin unvergessen bis heute. Immer wieder angehörte CDs (Mozart Requiem!) halten nicht nur Erinnerungen wach, sondern machen auch die überzeitliche Radikalität seiner Interpretationen bis heute deutlich. Exemplarisch im so spät herausgekommenen Schubert-Zyklus.

Wie sorgsam und delikat Harnoncourt jedes Soloinstrument zur Geltung kommen und in jeder noch so kleinen Phrase erblühen ließ, wie in einem ausgewachsenen Solo-Konzert. Das Miteinander im Orchester musikantisch und transparent wie im Streichquartett. Das Blech, diabolisch alle Hoffnungen zerschmetternd und im nächsten Atemzug geschmeidig zum Tanz aufspielend. Die Geigen des COE anno '88 schienen extra-scharfe Stahl- und extra geschmeidige Seiden-Saiten gleichzeitig aufgezogen zu haben. Dabei ist Liebliches ist nie lieblich um seiner selbst willen, sondern immer schon Trost für all die Abgründe, die sich schon im nächsten Moment auftun werden. Atemberaubend in ihrer Angriffigkeit und malstrom-artigen Unerbittlichkeit die dramatischen Stellen...

Weil ja immer wieder von den anschaulichen Sprachbildern Harnoncourts die Rede ist. Als er einmal meinte, die die Celli seien in einer Kadenz nicht „engagiert genug“, erinnert sich die Cellistin Sally Pendlebury Booklet, meinte Harnoncourt, es soll so klingen, „als käme man morgens die Treppe zum Frühstück herunter, öffne die Küchentür und stünde einer riesigen Lokomotive gegenüber“. Lokomotiven gibt es im Zyklus aus 1988 eine ganze Menge!

Franz Schubert: Sämtliche Symphonien. Chamber Orchestra of Europe. Leitung Nikolaus Harnoncourt. 4 CDs. ICA Classics 5160.
Zum Bericht über den Podcast Harnoncourts Klang-Reden Knödel mit Hals
Zum dpk-Bericht über das CD-First-Release Phönix aus der Asche

 

 

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