asdf
 

Parusie-Verzögerung

LEKTÜRE VORAB / HENISCH / DER VERIRRTE MESSIAS / RAURISER LITERATURTAGE

09/04/10 Dass ein junger Mann, der nach Israel fliegt, die Bibel liest, ist vielleicht nicht ungewöhnlich, doch dass er bei dieser Lektüre lacht, findet Barbara, die im Flugzeug neben diesem seltsamen Menschen sitzt, befremdlich. Nach ihrer Rückkehr erwartet sie zu Hause der erste einer Serie von Briefen aus Israel, in denen ein Mann, der sich mit Jesus identifiziert, herauszufinden versucht, warum die Erlösung nicht stattgefunden hat - bis heute.

VON PETER HENISCH

Nein, er sah nicht außergewöhnlich aus. Ganz bestimmt nicht wie eine dieser Ikonen. Auch nicht wie irgendein Fanatiker oder Psychopath. Allerdings hatte sein Blick etwas sehr Beharrliches.

So fing es jedenfalls an: Daß er sie anschaute und daß sie es bemerkte. Dort, in der Abflugzone des Flughafens Frankfurt. Sie blätterte in den Zeitungen, die sie eigentlich erst während des Flugs hatte lesen wollen. Aber der Start der Maschine, das wurde nun schon zum dritten Mal durchgesagt, würde sich noch ein wenig verzögern.

Daß sie sich nicht so recht auf die Feuilletons konzentrieren konnte, die sie eigentlich interessieren sollten, von Berufs wegen, denn sie verdiente ihr Geld mit Literaturkritik, hing vielleicht nicht nur mit der Übersättigung zusammen, die sich auf der heurigen Buchmesse früher eingestellt hatte als in den vergangenen Jahren, sondern auch mit diesem Blick. Dem Blick eines Menschen, den sie ganz einfach spürte. Wie funktioniert das? Wissenschaftlich, hatte sie einmal gelesen, ist es nicht nachweisbar. Aber in einer Umfrage gaben 90 Prozent der Befragten an, diese Erfahrung zu haben.

Sie hob also ihren Blick aus den Zeitungen und sah ihn. Den Typ, der sie anschaute, denn das tat er nach wie vor. Ein Mann um die Dreißig, er saß ihr schräg gegenüber. Die Beine in den unten etwas abgestoßenen Jeans übereinandergeschlagen. Jetzt lächelte er. Wahrscheinlich hätte sie seinen Blick nicht erwidern sollen. Denn schon war er aufgestanden und kam auf sie zu. Im Gehen wirkte er kleiner als im Sitzen. Aber vielleicht lag das nur daran, daß er leicht gebeugt ging.

Vorgebeugt ging er. Auf sie zu geneigt.
Dann stand er vor ihr. Und lächelte noch immer.
Die Perspektive von links unten war nicht günstig.
Seine Schneidezähne waren in Ordnung, aber weiter rechts oben hatte er eine Zahnlücke.

Sie fliegen also auch nach Israel, sagte er. So treffen wir uns wieder.
Wieso? fragte sie. Sind wir uns schon begegnet?
Gewiß, sagte er.
Hier auf der Buchmesse? fragte sie.
Das auch, sagte er. Auf dem Empfang von Hoffmann und Campe.
Entschuldigung, sagte sie, aber man trifft so viele Leute …

Ja, sagte er, vor lauter Leuten sieht man die Menschen nicht. Aber ich habe Sie gesehen, gleich an der Garderobe habe ich Sie gesehen. Nachdem Sie Ihren Mantel abgelegt hatten, haben Sie sich über die Schulter geschaut – da habe ich gewußt, dass wir uns schon lang kennen.

So, sagte sie, ach du lieber Gott, dachte sie, anscheinend wollte sich der Typ auf diese Art was mit ihr anfangen! Auf so etwas hatte sie jetzt überhaupt keine Lust. Nach drei Tagen in den Messehallen und auf diversen Empfängen war sie einfach müde. Im übrigen fand sie nichts Attraktives an ihm.

Außer vielleicht seine Augen, aber denen wich sie jetzt aus. Es war ja auch fast eine Frechheit, wie er sie ansah. Distanzlos. Wie kam er dazu? Was berechtigte ihn zu dieser Vertrautheit? Andererseits … Vielleicht kannte er sie wirklich von früher … Ganz und gar unhöflich wollte sie auch nicht sein …


Mit freundlicher Genehmigung des Deuticke Verlages.
Peter Henisch: Der verirrte Messias. Roman. Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2009. 400 Seiten, 25,60 Euro 

Peter Henisch, Rauriser Literaturpreisträger des Jahres 1976, liest heute Freitag (9.4.) zusammen mit weiteren früheren Rauriser Literaturpreisträgern ab 18 Uhr im Gasthof Grimmig in Rauris. Weiters lesen werden Hans Joachim Schädlich (Rauriser Literaturpreis 1977), Katja Oskamp (Rauriser Literaturpreis 2004) und Michael Köhlmeier (Rauriser Literaturpreis 1983). www.rauriser-literaturtage.at


 

DrehPunktKultur - Die Salzburger Kulturzeitung im Internet ©2014