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Verstörend, die feinen Stiefelchen der Tante

LESEPROBE / GESA OLKUSZ / LEGENDEN

09/04/15 Filbert und Mae begegnen sich in einer Winternacht in Berlin. Auch die Liebe auf den ersten Blick lässt Filbert nicht zur Ruhe kommen. Er wird getrieben von den Legenden um seinen Großvater, der als Widerstandskämpfer in den Wäldern Osteuropas den Heldentod gestorben ist… Gesa Olkusz legt mit „Legenden“ ihr Roman-Debüt vor. – Hier eine Leseprobe.

Von Gesa Olkusz

Ich hatte sie zum ersten Mal vor ein paar Tagen bemerkt, die Stiefelchen, schwarz, fein, ein wenig abgetragen vielleicht, mit einem niedlichen Absatz. Es muss ungefähr zur gleichen Stunde gewesen sein, ich war mit Roman Fallberg auf dem Heimweg. Wir hatten auf der Brücke haltgemacht für eine Zigarette, und während Roman hektisch den Sonnenaufgang skizzierte, legte ich mich auf die Straße, um ein wenig auszuruhen und den Morgenhimmel zu betrachten, und da hingen sie über mir. Im Glanz der aufgehenden Sonne schienen sie

geradewegs zu funkeln. Sofort hatte ich das Bild meines Tantchens vor Augen, oben am Laternenpfahl, nur dass es plötzlich ein Baum war, in dessen Zweigen sie sich verfangen hatte mit ihrem langen Rock, die Beine steckten in den schwarzen Stiefelchen und zappelten aufgeregt, wie sie sich so zu befreien versuchte.

»Wie bist du da hinaufgeraten, Tantchen?«, rief ich ihr munter zu, von der Straße aus, doch sie ignorierte mich und fuchtelte bloß weiter vor sich hin. Roman allerdings drehte sich zu mir um, sprang fluchend auf und zerrte mich von der Straße, dabei waren ja gar keine Autos unterwegs. Er war so zornig, dass ich das Tantchen mit seinen Stiefelchen gleich wieder vergaß, bis mir gestern Nacht ein Foto von ihr in die Hände fiel, ein kleines Viereck in Schwarzweiß, mit gezackten Rändern. Sie ist noch ein kleines Mädchen darauf, ich war vollkommen vor den Kopf gestoßen. Die Aufnahme muss in dem Dorf im Osten gemacht worden sein, aus dem sie und mein Vater stammen. Sie trägt ein schwarzes Kopftuch, sodass man ihre Haare nicht sehen kann, und ein langes, weißes Spitzenkleid, sie ist barfuß, und solche Stiefelchen wie die am Laternenpfahl hätten ganz wunderbar in das Bild gepasst. Sie hätten die vergangene Eleganz jener Tage gezeigt, die uns moderne Menschen heute wie Karikaturen wirken lässt, Karikaturen wovon, ich weiß es nicht, unserer Absichten vielleicht. Und ihr Gesicht, das Gesicht des Tantchens, ist ganz weich und froh auf diesem Foto, sie blickt mich direkt an, mit großen dunkelblauen Augen, heute schielt sie nur noch an einem vorbei.

Auf dem Bild steht mein Vater neben ihr und schaut sie auf eine spöttisch verliebte Art an, sie dagegen ist ganz auf die Kamera konzentriert, oder auf den, der sie hält, ihren Vater, den großen Stanis. Was bedeutet, dass sie auf dem Foto nicht älter als sechs ist und mein Vater noch jünger, das muss man sich mal vorstellen, es sprengt einem das Herz. Ich hatte nicht gewusst, dass es überhaupt Bilder aus dieser Zeit gibt, dieses rutschte aus einem Stapel Urlaubsfotos. Es gab so wenig Persönliches, kaum Erinnerungen in der Wohnung meiner Eltern, als hätten sie dort nicht dreißig Jahre lang gelebt. Ich nahm zwei Kisten mit, nachdem meine Mutter gestorben war, ehr nicht, und der Großteil davon waren Dokumente. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre tot.

Ich kann das Tantchen nicht leiden, und sie mich erst recht nicht. Aber wir haben ja nur noch einander, also hatte ich ihr, als mir die Stiefel wieder eingefallen waren, eine Freude machen wollen und mich heute, mit genug Alkohol im Blut, an die Aufgabe gewagt.

Tatsächlich scheinen die Schuhe höher zu hängen, als ich es eingeschätzt hatte. Trotzdem bemühe ich mich, nach ihnen zu fischen, unter den wachsamen Blicken der Familie kann ich nicht zurück. Als ich mich in die Höhe zu räkeln beginne, atmen sie wie mit einem einzigen gemeinsamen Zug kräftig ein. Das Kind greint mittlerweile, schluckend vor Aufregung.

Mit freundlicher Genehmigung des Residenz Verlages

Gesa Olkusz: Legenden. Roman. Residenz Verlag Salzburg Wien St. Pölten 2015. 192 Seiten. 19,90 Euro. Auch als E-Book erhältlich – www.residenzverlag.at
Bild: Frederike Nass

 

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