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Über das Andere

LESEPROBE / PETER SIMON ALTMANN / DAS ANDERE

11/05/20 Herzinfarkt. Der Unternehmer Jakob Waltz will sich radikal verändern und folgt den Spuren des Denkers Victor Segalen, der vor hundert Jahren in Peking gelebt hat. Waltz stellt fest: Es nicht so einfach, die Vergangenheit abzustreifen. Langsam wird die 'Idee des Anderen', wie sie Segalen konzipiert hat, zur Obsession – Hier eine Leseprobe aus Das Andere.

VON PETER SIMON ALTMANN

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Immer, wenn Jakob Waltz wach im Bett liegt und die nächtliche Ruhe nicht findet, sehnt er sich nach den Tagen seiner Kindheit und frühen Jugend zurück, als er im Einklang mit sich selbst und der Welt auf dem Rücken liegend in den Schlaf gesunken war. In der Pubertät hat er jene Gunst – auf dem Rücken verharrend einzuschlafen – verloren, seitdem muss er sich immer zuerst auf die linke und nach ein paar Minuten auf die rechte Seite drehen, um von Morpheus in die Arme genommen zu werden. Etwas in seinem Inneren sperrt sich dagegen, den Schlaf in Empfang zu nehmen, das Urvertrauen, das ihn einst ummantelte, hat sich verflüchtigt beziehungsweise an einen unbestimmbaren Ort – scheinbar unerreichbar – zurückgezogen.
Ab und zu beginnen sich draußen vor den Fenstern an der Rückseite des Hotels rumorend die Ventilatoren zu drehen, die für die Gebäudeheizung Luft ansaugen, und aus der Ferne erschallt regelmäßig zu jeder Viertelstunde eine an den Big Ben erinnernde Glocke, die jedoch eine Melodie zu Ehren Mao Zedongs von sich gibt.
Jakob Waltz ist nach Shanghai gekommen, um zu vergessen, und auf der Suche nach etwas Neuem. In seinem Gepäck befindet sich neben einer ästhetischen Schrift des französischen Arztes Victor Segalen und einem schmalen Band des Philosophen Emmanuel Levinas der Roman „Le Rouge et le Noir“ von Stendhal. Jakob Waltz liest diesen Roman bereits zum zweiten Mal, vor allem der Schluss des Buches hat es ihm angetan, seit über drei Monaten kommen seine Gedanken immer wieder darauf zurück.
Auf den letzten Seiten des Buches wartet der Held von „Rot und Schwarz“, namens Julien Sorel, im Kerker auf seine Hinrichtung. Sorel hadert nicht mit dem Schicksal seines unmittelbar bevorstehenden Todes, obwohl er mit seinen dreiundzwanzig Jahren eigentlich noch viel zu jung fürs Sterben ist, sondern mit der abgrundtiefen Einsamkeit, die ihn umgibt. „Ein jeder ist allein… Allein! Welche Hölle!“, lauten seine verzweifelten Worte, und in der stickigen Zelle wird ihm – in einem Moment der Wahrheit – bewusst, warum er leidet. „Es ist nicht der nahe Tod, nicht das Gefängnis, nicht die Kerkerluft, die mich niederwirft. Es ist die Trennung von Louise Rênal!“, heißt es im Roman weiter, und der junge Mann hätte sich über die gleichen Umstände nicht beklagt, wenn er nur mit seiner Liebe verbunden gewesen wäre.

Julien Sorel war der Hauslehrer der Kinder von Madame de Rênal gewesen und hatte die Frau des Hauses verführt. Aus der verbotenen Liaison, die anfangs von Seiten des Mannes vielleicht wirklich nur eine Spielerei gewesen war, wurde eine tief empfundene Liebe. Die sich entwickelnde große Leidenschaft dieser auf Grund der äußeren Umstände schwierigen Beziehung gipfelte sogar in Pistolenschüssen, die Sorel auf Louise Rênal abfeuerte. Madame de Rênal hat die Attacke überlebt und ihrem Geliebten verziehen. Die Tat lässt sich nachvollziehen, wenn man die ganze Geschichte kennt. Julien Sorel wartet nun im Kerker auf die Todesstrafe, die damals in Frankreich auf Mordversuch stand.
Frau Rênal schafft es, sich von Ehemann und Kindern loszureißen, und besucht Julien Sorel zweimal täglich in seiner Kerkerzelle. Und Julien erfährt in diesen wenigen Tagen vor seiner Hinrichtung in der neuerlichen Begegnung mit Louise Rênal das Andere. „Ich wäre gestorben, ohne das echte Glück zu erfahren, wenn du nicht zu mir in mein Gefängnis gekommen wärst!“, sagt er zu ihr. „Ihr gegenüber hatte Julien keine kleinliche Eigenliebe“, schreibt Stendhal im Roman weiter. Der männliche Hauptprotagonist von „Rot und Schwarz“ erlebt kurz vor seinem Tod, wenigstens einmal in seinem Leben, echte Zweisamkeit, echte Gemeinschaft. Wenigstens einmal erfuhr er sich von seiner narzisstischen Selbstbespiegelung befreit und konnte sich gleichsam aufgeben. Und die Konfrontation mit dem Anderen ist so tief, dass Julien Sorel gestärkt in den Tod gehen kann. Die Erfahrung, dass es Anderes gibt, lässt ihn sein leidliches Schicksal freimütig akzeptieren.

Mit freundlicher Genehmigung von edition laurin

Peter Simon Altmann: Das Andere. Roman. edition laurin, Innsbruck 2020. 160 Seiten, 19,90 Euro - www.editionlaurin.at
Bild: edition laurin / privat

 

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