Mörder, frisch von der Tat?

BUCHBESPRECHUNG / MÜRY / ZWEI PAARE OHNE SEX IM WALDVIERTEL

23/06/16 Mit 83 debütierte der amerikanische Dirigent Herbert Blomstedt bei den Wiener Philharmonikern. Wie früh dagegen das Debüt des Schweizer Wahl-Österreichers und Theaterkritikers Andres Müry, der in Salzburg einen Verlag mitbegründet und nun mit 68 seinen ersten Erzählband vorgelegt hat.

Von Heidemarie Klabacher

Haben alle Bücher aus dem Hause „weissbooks.w“ ein doppelseitiges Autorenfoto als Auftakt? Andres Müry jedenfalls blickt einem mit dem Ausdruck eines hoch gehandelten Nobelpreis-Kandidaten zurückhaltend entgegen. Wer weiß. Thomas Mann hat seinen Nobelpreis ja auch für ein einziges Buch bekommen. An Dichterlorbeer wäre einiges zu ernten, wenn Andres Müry aus nur einer der vier „Stories“ im Band „Zwei Paare ohne Sex im Waldviertel“ einen Roman machte.

Material dafür ist vorhanden in Hülle und Fülle. Traumata und Verletzungen, Verdrängungen und Ängste - psychisches Abraum-Material komplexester Zusammensetzung - könnte mit Bagger, Schaufel und schließlich mit Archäologen-Kelle und -Pinsel freigelegt werden: In vier Geschichten, dicht gebaut und gespickt mit Kehr-Wendungen und Dreh-Momenten, begegnen wir vier Herren in den jeweils besten Jahren, streifen deren Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.

Die Gegenwart wirkt jeweils recht proper, geradezu cool: Die Herren haben es geschafft, der Modefotograf, der Schauspieler, der Lifestylereporter und der Diplomat. In der Vergangenheit lauern Verdrängung oder Schuld, Lieb- oder Mutlosigkeit. Vor allem lauert das Gespenst der Feigheit, das einen (bis heute?) daran hindert, zu sich selbst zu stehen, zu einem zu einer wie auch immer gearteten sexuellen Orientierung – oder zu der Tochter, die die Ex damals offensichtlich doch nicht hat abtreiben lassen. In der Zukunft wartet… niemand eigentlich.  

Es sind bei allen – oft geradezu bizarren - Überfrachtungen recht wehmütige Geschichten. Den vier Herren ist durchaus vieles bewusst, von dem, was im Augenblick der jeweils erzählten „Story“ aus alten Tagen heraufkocht. Alternativen böten sich in diesen Augenblicken an, neue Wege öffneten sich – und werden nicht beschritten. Weiter im alten Trott.

All das deutet der „Debütant“ Andres Müry mit der Souveränität der Lebenserfahrung an, die gewöhnliche Debütanten durch altkluge Besserwisserei meist vergeblich herzustellen versuchen. Genau deswegen wünschte man sich von der einen oder anderen der vier „Stories“ mehr als die vorliegenden überfrachteten Plots. Namedropping geht sich immer wieder mal aus, Buch-, Film- oder Musiktitel werden locker eingestreut (Elementarteilchen macht sich immer gut), ebenso der eine oder andere Markenname. Wirklich fies gekonnt, wie Müry einen Gmunder Thomas Bernhard-Hasser allein mit Aufzählung seiner Lektürevorlieben ins Rechte Eck stellt.

Tote gibt es auch: In der Titelstory „Zwei Paare ohne Sex im Waldviertel“ in der Vergangenheit und, in Gestalt eines beinahe Verkehrsopfers, auch in der Gegenwart. Dazu auch noch NS-Aufarbeitungsproblematik und die vielen sexuellen Probleme der damaligen Jugendlichen. „Gmundner Glück“ kommt daher, wie einer der vielen vom jeweiligen Fremdenverkehrsverein gesponserten Regional-Krimis. Der Held in „Eine Art Familie“, das ist der Diplomat, hat sich zwar zum Schwulsein bekannt, dafür aber eine Tochter verpasst.

Die sich steigernde Gewalttätigkeit des Schauspielers und Fernsehkommissar in „Alte Liebe“ ist das Gerüst für die geradlinigste und demnach überzeugendste „Story“. Da beleibt sogar wenig Raum für atmosphärische Schilderungen (etwa in der Künstlergarderobe vor dem Auftritt). Andre Mürys Theatererfahrung schlägt hier durch. Das Bild des Protagonisten verdichtet sich fast schon zum Charakter. Davon bitte einen Roman.

Andres Müry: Zwei Paare ohne Sex im Waldviertel. Stories. weissbooks.w, Frankfurt am Main 2016. 190 Seiten, 20,60 Euro - www.weissbooks.com
Buchpräsentation ist am Freitag (24.6.) um 19.30 in der Rupertus Buchhandlung. Moderator ist Anton Thuswaldner - www.rupertusbuch.at

Bild: www.weissbooks.com