Begabte Bäume heißt das jüngste Buch von Bodo Hell. Es gebärdet sich als ein friedvolles Nachschlagewerk mit natur- und volkskundlicher Anmutung, bis es einem beim Nachzählen von Blütenständen und Staubbeuteln (nicht Bosch oder Dyson) mit unerwarteten Qurerschlägen plötzlich den Atem raubt. Scheinbar unverfänglich, hinterfotzig harmlos dem Alphabet folgend – unter Auslassung der Buchstaben D, F, G, J, N, O, Q, R, X und Y – hantelt sich Hell von Ahorn und Birke über Esche und Hainbuche (ist „Kaiserbuche“ ein Baum oder eine baumartige Lebensform) zu Tanne und Weide.
Zirbe kommt nur als ihr eigenes Holz und als Likör vor. Wer Bodo Hell wirklich zu verstehen versucht, wird auch mal auf das Wörterbuch der Brüder Grimm zurückgeworfen. „Gock, m., Pfannenhalter für offene Herde“. Da bekommt Bodo Hells Vorhaben – da schneide ich mir demnächst ein geschwungenes Stück für einen Gock oder Deutlhauser heraus – eine wohltuende Verwurzelung im Wurzelholz der Sprache: Einen Pfannenhalter, den man im elaboriertesten Fall für verschiedene Pfannengrößen und Stielhöhen einstellen kann braucht schließlich jeder. Die Suche nach Deutlhauser dagegen führt – wie jedes Herumirren im Nebel – zu seinem Ausgangspunkt zurück, zum gleichnamigen Biobauernhof in Ramsau am Dachstein. Wird schon dazu passen, ist ja Bodo Hell-Kernland.
„Die Grafenbergalm befindet sich im Norden des Marktgemeindegebiets von Haus. Die große Almweide in Form einer Senke nordwestlich der Alm nennt man Hüttfeld“, weiß das EnnstalWiki. „Die Grafenbergalm liegt am Steig Nr. 618 halbwegs zwischen Berggasthof Steinerhaus am Stoderzinken und Schutzhütte Guttenberghaus“, sie sei nicht bewirtschaftet, werde aber seit 1979 von Bodo Hell als Almhirte betreut. Die Hell'sche Aufforderung an Almwanderer, beim Brennholz-Transport mitzuhelfen, kennt man schon: BITTEL KNÜTTEL HÜTTEL. Unter dem Buchstaben L wie Latsche (ist das überhaupt ein Baum) erfährt man die Hintergründe. Bitte selber nachlesen. Brandbeschleuniger bitte bedachtsam verwenden beim Schwenden.
Bodo Hell hat es ja nicht so mit der Zeichensetzung. Beistriche kommen vor. Da und dort ein Doppelpunkt. Punkte selber eher nicht. Da führt die Satzstruktur ein verzweigtes verborgenes Leben wie das Myzel von Pilzen oder das Rhizom von Bambus (auch wenn wir uns mit Bodo Hell auf gesichert österreichischem Gebiet bewegen). Sprich: Das Ganze ist sauschwer zu lesen. Wie schön wäre es, würde der Verlag mit dem Buch einen Vorleser liefern. Die Poesie der Hell'schen Spintisierereien, ihre innere Logik und ihre gnadenlose Ironie kämen im Vorlese-Fluss vermutlich noch viel plastischer zum Vorschein, als beim Selberlesen. Dieses kommt, will man nicht irregehen, ohne Bleistift und strukturierende Hilfs-Satz-Zeichen nicht aus. Vermutlich ist Bodo Hell selber der beste Rezitator seiner eigenen Abgründig- und Bösartigkeiten.
Corona kommt auch einmal vor unter H wie Holz (fallen Fälle). Keine Kritik keines Maßnahmen-Kritikers gleicht Bodo Hells Antwort auf die Frage „kann man bei der Holzarbeit im Wald zu zweit den vorgeschriebenen Abstand zueinander (von eineinhalb Metern) ohne weiteres einhalten“.
Da erklärt Bodo Hell das „intendierte Abholzen etwa von Kiefernstämmen im Genossenschaftsmischwald, welche schon im Jänner gemeinschaftlich angeplätz werden“. Die bis heute gefährliche Arbeit der Holzknechte mit einigen wenigen Federstrichen mit den Gefahren des Nicht-Abstandhaltens in Beziehung zu setzen? Das schafft Hell meisterhaft boshaft und meisterhaft komisch.
Interpunktiert sind die alphabetischen Baum-Texte, mit all ihren nur möglichen und unmöglichen thematischen Ab-Irrungen, von sieben Itineraren. Das sind Reise- und Wegbeschreibungen, da und dort in Österreich, nicht nur im Dachsteingebiet. Die Tornado-Wanderung (ja, es gibt Tornados bei uns, Hell erklärt das genau) gehört dazu. Der erste und der letzte Text sind Itinerare. Der Schluss-Text ist nicht der alkoholhaltige Zirben-Exkurs. Der letzte Text heißt „zu Bruch“. Und zu Bruch gehen Lawinenschneisen und Kinderseelen. Da hat Bodo Hell ein ganzes Buch lang jeglichem touristisch-selbstfinderischem Natur-SchnickSchack die lange Nase gezeigt, um seiner Leserschaft just auf den letzen Seiten vor Augen zu bringen, wie wahrhaft Böses mitten in der Natur statthaben und wie manche Verletzung auch nicht durch Überwucherung zum Verschwinden gebracht werden kann. Da hilft dann nur, zu den giftigen Eiben zurückzublättern...
Die detailreichen unprätentiösen Zeichnungen von Linda Wolfsgruber gehören ganz wesentlich dazu!