Dem Feuilleton um Schrecksekunden voraus

IM PORTRÄT / MICHEL HOUELLEBECQ

27/07/19 Er sei der „Partyschreck der Literatur“ hieß es kürzlich über Michel Houellebecq im Standard. Tatsächlich ist kaum einer jener Autoren, die jedes Jahr traditionellerweise zu Festspielbeginn in Salzburg mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur geehrt werden, so sehr immer wieder in aller Munde.

Von Reinhard Kriechbaum

Die Preisträgerliste der letzten Jahre macht sicher: Wer kennt, geschweige denn redet über Patrick Modiano (2012), John Banville (2013), Ljudmila Ulitzkaja (2014), Mircea Cărtărescu (2015), Andrzej Stasiuk (2016), Karl Ove Knausgård (2017) und Zadie Smith (2018)? Nicht so bei Michel Houellebecq. Sein Name ist Reizwort und deshalb auch oft in den Mündern jener, die mit Literatur eigentlich nicht so viel am Hut haben. Ein Bestseller schlechter Botschaften, wie die Jury, die ihm den diesjährigen Staatspreis für Europäische Literatur zusprach, bestätigt: „Seine Texte verraten ein besonderes Sensorium für Fragen von gesellschaftlicher Sprengkraft, wobei er den Konjunkturen des Feuilletons stets vorausgeeilt ist – ob es um die moderne Arbeitsrealität geht, die Möglichkeiten und Gefahren der Gentechnik, die Erscheinungsformen des religiösen Fanatismus die Kehrseite der sogenannten sexuellen Revolution (ein Monopolkapitalismus des Sex) oder den Verfall des ländlichen Raumes.“ Die Auszeichnung, so die Juroren, gelte einem Werk, das das verstörende Potenzial von Literatur exemplarisch zeige und „weitaus komplexer ist als die medialen Debatten, die sein Autor mitangefacht“ habe.

„Die zum Teil extrem provokanten Diagnosen Houellebecqs setzen jene Übertreibungskunst fort, die in der Literatur des 20. Jahrhunderts die Grenzen zwischen Biografie und Werk, Kunst und Leben systematisch überschritten hat. Seine drastischen Plots verblüffen durch krasse Überzeichnungen, verquere Peripetien und sprachlichen (Wahn)Witz; der enttäuschte Idealismus seiner gebeutelten, lächerlichen, letztlich stets scheiternden männlichen Helden schlägt in grellen Zynismus um.“

Der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur wird seit 1965 für das literarische Gesamtwerk einer europäischen Autorin bzw. eines europäischen Autors verliehen. Der französische Romancier, Lyriker und Essayist hat die mit 25.000 Eurdo dotierte Auszeichnung gestern Freitag (26.7.) im Solitär der Universität Mozarteum entgegen genommen. Bundesminister Alexander Schallenberg: Es gehe bei diesem Staatspreis nicht nur um die Würdigung des jeweiligen Literaten. Der Preis solle „vor allem auch einen Beitrag zur kulturellen Verständigung und zum kulturellen Austausch in Europa“ leisten. Denn es brauche Vordenker und Mitdenker, „gewissermaßen Forensiker der Gesellschaft, die uns auf ihre Art vor Augen führen, dass nichts selbstverständlich ist, dass keine Generation sich einfach ausruhen kann, sondern um den Erhalt ihrer Werte kämpfen muss“, so der Minister. „Gerade hier kommen Autoren wie Michel Houellebecq ins Spiel.“

Zur Biographie: Sicher ist, dass Michel Houellebecq auf La Réunion geboren wurde. Ob 1956 oder 1958? Das weiß man so genau nicht, denn Houellebecq sagte, seine Mutter habe geflunkert beim Geburtsdatum, um ihm schon als Vierjährigen den Schulbesuch zu ermöglichen. Der als Michel Thomas geborene Autor wuchs bei den Großmüttern in Algerien und in Clamart nahe Paris auf. Dort nahm er den Mädchennamen seiner Großmutter väterlicherseits an.

Michel Houellebecq begann in den 1980er Jahren mit Gedichten, die 1991 und 1992 gesammelt in den Bänden Rester vivant und La Poursuite du bonheur erschienen (Suche nach Glück, 2000). Die Romane Extension du domaine de la lutte (Ausweitung der Kampfzone, 1994/1999) und vor allem Les Particules élémentaires (Elementarteilchen, 1998/2001) machten ihn rasch international bekannt.

2015 erschien Soumission (Unterwerfung), eine politische Fiktion über das Frankreich im Jahr 2022, das von einem islamischen Präsidenten regiert wird. Er wurde exakt am Tag des islamistischen Terroranschlags auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo veröffentlicht. Anfang 2019 erschien sowohl in Frankreich als auch nahezu zeitgleich in Deutschland der Roman Sérotonine (Serotonin). Da ist die Verachtung der Europäischen Union ein zentrales Thema.

Der Staatspreis für Europäische Literatur ist nicht die erste österreichische Ehrung für den Prix-de-Goncourt-Preisträger. 2017 erhielt Houellebecq das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst.

Bild: BKA / Michael Gruber (1)