Notausgänge gehören zum Welttheater

FESTSPIELE / ALEXANDER KLUGE

01/08/20 Was für ein schönes Bild: Die Bordkapelle spielt immer noch auf der Titanic, die schon unterwegs Richtung Meeresgrund ist. Nur eine Luftblase im Schiffsbauch, in der noch die Musik erklingt... Ist das für Alexander Kluge, als Schriftsteller und Filmemacher ein Kultur- und Gesellschaftsdenker unserer Zeit, die Situation von Gesellschaft und Festspielen?

Von Reinhard Kriechbaum

Ja und nein. Denn Alexander Kluge fügt dem Bild noch eine Hypothese bei. Da wird einer durch die Musik sensibilisiert und zum Denken angeregt. Er erkennt angesichts der Holztäfelung des Schiffs-Salons die Option, aus dem Material ein Floß zu bauen: Wiewohl schon deutlich unter Wasser, dem Untergang doch noch entrinnen – was für ein Mehrwert von Festspielen!

Zu der Stunde, da in einem „normalen“ Festspiel-Jahr der Eröffnungsredner dran wäre, hat man heuer Alexander Kluge in der Felsenreitschule an den Lesetisch gebeten. Er war am Samstag (1.8.) der Erste in der exklusiv für diese sehr speziellen Festspiele erdachten Reihe Reden über das Jahrhundert. Beim Reden ist es in diesem Fall eben so wenig geblieben wie bei einem Centennarium, „denn wir sind keine Jahrhunderttiere“. Kluges Betrachtungen setzen oft beim antiken Mythos an oder führen dorthin. Und wenn er kleinere Zeiträume ins Auge nimmt, dann kann ein Vierteljahrhundert schon einen radikalen Umbruch bedeuten.

Beinah hoffnungslos, das zu referieren, was alles Alexander Kluge in knapp anderthalb Stunden redend und mit multimedialen Bildmitteln (als Filmemacher weiß er um die Kraft des Bildes) mit geistes-gegenwärtiger Brillanz zusammen gebracht oder auseinander dividiert hat. Er tat das immer mit didaktischem Hinterhalt: Bloß uns nicht in Sicherheit zu wiegen! Der schöne polnische Jüngling, den Thomas Mann im Tod in Venedig 1912 eingeführt hat, dieser junge Pole aus der Literatur hätte ein Vierteljahrhundert später möglicherweise in der polnischen Armee gedient. Er wäre vielleicht erschossen worden von Deutschen oder Russen. Und seine Mutter hätte in Lemberg nach einem Foto ihres Sohns gesucht. Fiktive Wirklichkeits-Exkurse aus der Kunst heraus, und schon ist's geschehen ums Schöne.

Da kann man wohl nur ein Lamento anstimmen – und akkurat hat Kluge beobachtet, dass in all den Werken der Opern-Frühzeit – durchwegs mythologische Stoffen – das Lamento offenbar nicht zufällig eine grundlegende Ausdrucksform war. Festspiele also als ein purgativ wirkendes Gruppen-Lamento? Auch gemeinsames Trauern sei eben eine Aufgabe von Festspielen, argumentiert Alexander Kluge.

In seiner an Gedankensprüngen und Assoziationen überreichen Multimedia-„Rede“ hat er das Hundertste mit dem Tausendsten konfrontiert und nie das Ziel, das große Plädoyer für die Kunst und die Festspiele, aus dem Blickwinkel verloren. Ins Salzburger Festspiel-Jahrhundert fielen Bücherverbrennungen – aber „in meinem Herzen brennt die Bibliothek von Alexandria noch heute“. Er sei eben „ein Patriot der Bücher von Berufs wegen“, aber ein solcher Buchstaben-Patriot ist gewiss keiner, der nach Ländergrenzen ruft. Schnell ist der Bogen gespannt von Aeneas zu Steve Jobs: Apple gäbe es nicht, hätte dessen syrischer Vater einst nicht Aufnahme in die USA gefunden...

Und immer wieder auch Optimismus: Wenn in sechs Millionen Jahren Andromeda-Nebel und Milchstraße ineinander geflossen sein werden, dann „sind alle unsere Nächte hell“, und das angeblich ohne größere Friktionen. Sphärenmusik, die zu „vereinigten Galaxien“ führt. Der üble Bursche Chronos aber, der Zeit-Gott, der seine Kinder frisst? Da hilft nur die Suche nach Notausgängen. Und schon ist Alexander Kluge, der bei Luigi Nono ansetzte und bei Heiner Müller noch lange nicht am Ende war, bei Marcel Proust gelandet. Dem war langweilig in einer Vorstellung und er sah sich um im Raum. „Notausgänge gehören zum Welttheater“. Egal, ob man sie imMoment braucht oder nicht.

Die Reihe „Reden über das Jahrhundert“ wird am 9. August fortgesetzt, da ist der persischstämmige, in Deutschland lebende Navid Kermani Schriftsteller, Publizist und Orientalist. Navid Kermani zu Gast - www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: Wikimedia/Martin Kraft (1); SF/Markus Kirchgessner
Die DrehPunktKultur-Berichte über die „Reden über das Jahrhundert“:
Navid Kermani Argo fuck yourself!
Anita Lasker-Wallfisch Ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf
Elisabeth Orth Mit kompromissloser Stimme