Grausam und bunt wie das Leben selbst

FESTSPIELE / OEDIPE

12/08/19 Ein wenig bunt? Da und dort ein paar Geschlechtsteile auf der falschen Körperseite. Ein wenig bizarr? Warum nicht, wenn die zur Inszenierung gehörige Oper ihr Publikum dreieinhalb Stunden unter Hochspannung hält, wie George Enescus Oedipe in der Felsenreitschule: Ein Wurf von Ingo Metzmacher und Achim Freyer.

Von Heidemarie Klabacher

 Mit voller Lust am Riskio kopfüber hinein in eine so fremde wie vertraute Welt. So geht Mythos! So muss einen Mythos angehen, wer sich einen Mythos antun will: Mit Schwung und Selbstbewusstsein. Die so fremden wie vertauten Figuren – die heißen ja nicht umsonst „Archetypen“ – auf die Bühne zerren wie Herkules den Zerberus aus der Unterwelt und sie dort strampeln lassen mit allen ihren Verletzungen, Verbrechen und Hoffungen. Krass und bunt (ginge auch Grau in Grau, jedenfalls aber krass) müssen sie sein, mörderisch, verzweifelt, hoffend, verrückt, liebend: Wie halt der Mensch so ist.

Wissend, dass ein Achim Freyer für Regie, Bühne und Kostüme zeichnet, hatte man vor dieser Premiere wenig Panik, dass man einem Juppi-Paar im Penthouse bei der Abrechung zuschauen wird müssen. Achim Freyer hat mit Oedipe  (erwartungsgemäß) sinnlich-opulent und dabei so kundig wie subtil (nämlich ohne Gelehrsamkeit heraushängen zu lassen) die Substanz von zwei-dreitausend Jahren Mythos lebendig und aktuell werden lassen. Wie brillant das funktioniert, ganz ohne Banal-Aktualisierung, war denn doch überraschend.

George Enescus Tragédie lyrique beginnt, wie jede bessere Pycholanalyse, prä- peri- oder knapp post-natal. Jedenfalls liegt ein überdimensionales Baby auf der Bühne, von der Tänzerin Katha Platz im Inneren der Fettmassen tatsächlich wie ein Baby bewegt. Einzelne Posen meint man von legendären Embyo-Fotos im Mutterleib wieder zu erkennen. Œdipe ist es: Er ist schuldlos schon als Kind mit aller Schuld beladen, die die Götter ihm aufbürden. Alsbald trägt das wankende schwankende Kind seine Boxershort, die es zeitlebens, auch als König von Theben, nicht wieder ablegen wird.

Von der Geburt bis zur fatalen Begegnung mit dem Vater, den Œdipe ja nie kennengelernen und daher an der Kreuzung dreier Wege unerkannt ermorden wird, also gut zwanzig Jahre lang, bewegt sich die Titelfigur nicht vom Fleck: Genialer können menschlicher Stillstand in der Entwicklung, Unentrinnbarkeit und Schicksalsergebenheit nicht angedeutet werden. Genial auch, wie von dem Fetzenhaufen aus, auf dem Œdipe als Säugling liegt, die drei Wege von abrollenden Stoff-Bahnen gebildet werden. Œdipe/Ödipus trägt sein Schicksal in sich, er wartet schon immer an besagter Kreuzung, um den Vatermord zu begehen...

Die Baby-Puppe wird alsbald vom Bariton Christopher Maltman in der Titelrolle ersetzt. Doch die Anmutung ist die gleiche: Muskeln (als Kostüm angezogen, nicht antrainiert) und Kraft. Mehr breit als hoch. Verletzlichkeit und wenig innere wie äußere Standsicherheit. Fatal für einen Box-Champion. Die Furien des schlechten Gewissens hetzen Œdipe schon, bevor er noch Schuld auf sich geladen hat.

Am Ende – zwischendurch wird er ja als Bezwinger der Sphinx König von Theben, Ehemann der Mutter und wegen dieser Blutschuld verbannt und vom Schwager von Thron verjagt – am Ende wird er wieder genau so auf der Bühne liegen wie der Embryo. Allerdings blind nach der Selbstblendung, schwach vom Herumirren im Exil, letztlich aber stark in der Gewissheit von – Erlösung? Gibt's bei den Griechen nicht. Aber wohl Versöhung vor allem mit sich selbst... Œdipe wird heil. Man möchte fast sagen, ihm wird Heil geschenkt.

Die Performance von Christopher Maltman als Œdipe ist sängerisch und darstellerisch überwältigend. Die gesamte Bandbreite der Emotion, der diese Figur schon von Stoffes wegen, aber auch in der opulenten Musik von George Enescu ausgeliefert ist, fasst Christopher Maltman zusammen zu einem delikaten Psychogramm und zu einer Sternstunde der Gesangskultur.

Wie die Musik Enescus beschreiben? Erstaunlich wenig Wagner, erstaunlich wenig Romantik, schon gar keine Post-Romantik, auch ganz wenig Anklang Rumänischer Volksmusik – und doch von allem etwas. Augenblicksweise jazzelt es gar oder swingt. Und auch im Piano kommt diese fulminante ungeniert klangsinnliche Musik wie aus vollen Kannen daher. Die Wiener Philharmoniker unter der musikalischen Leitung von Ingo Metzmacher machen mit der Musik im Grunde genau das gleiche, wie Achim Freyer zusammen mit Franz Tscheck, Licht, und Benjamin Jantzen, Video, mit der Szene: Sie bilden die oft bizarr instrumentierten Klang-Emotionen mit kräftigster, mit vollen Händen auf die Leinwand geschütteter Farbe genauso ab, wie mit dem dreihaarigen Marderhaarpinsel für die Glanzpunkte auf dem fertigen Gemälde. Bei einem bildendnen Künstler als Regisseur seien die Maler-Metaphern gestattet.

Maltman/Œdipe ist ja nicht allein in der Tragédie lyrique in vier Akten und sechs Bildern op. 23 auf das Libretto von Edmond Fleg, teilweise nach den Tragödien König Ödipus und Ödipus auf Kolonos von Sophokles. Exemplarisch für alle erwähnt und gefeiert in ihren sängerischen und darstellerischen Leistungen seien Michael Colvin als Laïos (unheimlich im überlebensgroßen Kostüm), Anaïk Morel als Jocaste (ebenso unheimlich mit ihren statischen Bewegungen im steifen blauen Blütenkleid), John Tomlinson als (gefühlt zweieinhalb Meter großer blinder Seher) Tirésias oder Brian Mulligan als intriganter Créon. Der Auftritt von Ève-Maud Hubeaux als La Sphinge war bizarr, der von Chiara Skerath als Antigone bewegend. Sie alle haben mit der fulminant einstudierten Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und dem Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor zusammengewirkt zu einem Gesamtkunstwerk, dem dieser Ehrentitel tatsächlich gebührt.

Œdipe - zwei weitere Aufführungen am 17. und am 24. August - www.salzburgerfestspiele.at -
Radio-Übertragung am Samstag (17.8.) um 19.30 auf Ö1
Bilder: SF / Monika Rittershaus