Überflieger statt Vielflieger

HINTERGRUND / IGOR LEVIT

04/08/19 „Was ist der künstlerische Mehrwert von einem Leben als Musiker, der heute in Paris, morgen in Tokyo und übermorgen in New York auftritt?“ Fragt - sich selbst und die ganze Musik-Industrie - der Pianist Igor Levit. Der Klimawandel sei ein allgegenwärtiges Thema. Er werde wirtschaftliche und „damit in der Konsequenz auch künstlerische Folgen“ haben.

„Ein gesamtes Orchester durch die Welt zu fliegen? Vor allem der normale Konzertbetrieb muss sich warm anziehen. Wir werden über eine De-Gobalisierung nachdenken müssen.“ Den Fokus auf Eigenproduktionen zu legen und nicht mit einem Programm auf Tournee zu gehen, „das sei ein Thema, mit dem sich die Branche in den kommenden Jahren stark auseinandersetzen müsse“.

Nun, Igor Levits Programme sind schon jetzt maßgeschneidert. „Igor Levit ist ein wunderbarer Partner. Mit ihm spricht man nie darüber, ein Tourneeprogramm in Salzburg abzuspulen. Bei ihm geht es immer um die Frage, welche Werke programmatisch passen“, sagt Florian Wiegand, der Konzerchef der Festspiele.

Das erste Solistenkonzert Igor Levits stand heuer bereits am 22. Juli im Rahmen der Ouverture spirituelle auf dem Programm und legte davon beredtes Zeugnis ab: In zwei Werken von Franz Liszt (Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen. Variationenüber ein Motiv von Bach und Sunt lacrymae rerum aus Années de pèlerinage) und einer Liszt'schen Mozart-Bearbeitung des Lacrimosa aus dem Requiem flossen wundersame Tränen: Lacrymae eben - das Motto der Ouverture spirituelle. Die Variationenüber ein Motiv von Bach hat man auch nach xx Festspieltagen noch frisch im Ohr. Kein wunder: Die Variation sei seine liebste musikalische Form, sagt Igor Levit. „Variationen fordern meine Neugierde und meinen – sehr schnellen – Spieltrieb. Meine Augen und Ohren müssen überall gleichzeitig sein“, sagt der Pianist. Er kreise im auch Privaten gerne um ein Problem herum, das sei bei der Variation ähnlich. Ein Thema von allen Seiten beleuchten zu können, mache ihm wahnsinnig viel Freude. Wenn dies dann auch noch fast sechzig Minuten lang dauere, gehe ihm das Herz auf: „Ich entdecke dabei immer Neues“, sagt Igor Levit.

Zum Aufgehen hat des Künstlers (und seines Publikums) Herz heute Sonntag (4.8.) alle Gelegenheit: Bei seinem zweiten Solistenkonzert im Haus für Mozart spielt Igor Levit Ludwig van Beethovens 33 Diabelli-Variationen. Den Zyklus habe er „sicher schon über vierhundertmal Mal gespielt hat“ und „manchmal nervt es mich“: „Aber das liegt an mir. In Wahrheit ist es das wichtigste Werk in meinem Repertoire, der Dreh- und Angelpunkt und ein intellektuelles sowie emotionales Ereignis.“ Zehnmal der selbe Ton am Klavier: „Das ist das wichtigste Motiv in diesem Werk. Das ganze Stück basiert auf diesem repetitiven nerv tötenden Ton. So einfallsreich ist das nicht. Aber was Beethoven daraus erschafft, ist einfach ein Weltwunder.“ Die erste Variation sei eine Frontalangriff gegen den Walzer: „Ein Walzer mit 2/4-Marsch gebrochen, das sei eine geniale Ohrfeige.“

Wenn er am Klavier sitze, sei er weder der Diener noch der Meister des Komponisten. Es sei unkünstlerisch und eingebildet zu glauben, man sei „eine Art Medium des Komponisten“. Levit zeigt auf seine Noten und sagt: „Ich versuche, meinen Auftrag zu erfüllen.“ Am 24. Juli 2017 gab Igor Levit mit einem Kammerkonzert zusammen mit Markus Hinterhäuser sein Salzburg-Debüt und seither sechs Konzerte bei den Festspielen.

Die Biografie auf Igor Levits website ist kurz und bündig: 1987 in Nizhni Nowgorod geboren, übersiedelte Igor Levit im Alter von acht Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. Sein Klavierstudium an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover absolvierte er mit der höchsten Punktzahl in der Geschichte des Instituts. Zu seinen Lehrern gehörten Karl-Heinz Kämmerling, Matti Raekallio, Bernd Goetzke, Lajos Rovatkay und Hans Leygraf. Als jüngster Teilnehmer gewann Igor Levit beim 2005 ausgetragenen International Arthur Rubinstein Wettbewerb in Tel Aviv neben Silber auch den Sonderpreis für Kammermusik, den Publikumspreis und den Sonderpreis für die beste Aufführung zeitgenössischer Pflichtstücks. In seiner Wahlheimat Berlin spielt Igor Levit auf einem Steinway D Konzertflügel – eine Schenkung der Stiftung “Independent Opera at Sadler’s Wells“. (SF/Anne Zeuner; dpk-klaba)

Bild: Felix Broede / Sonny Classical
Zur dpk-Besprechung des ersten Solistenkonzertes 2019
Extreme aus einem Guss
Zur dpk-Besprechung des Debut-Konzerts 2017
Amen, ich sage Euch