Entstaubt: nicht umsonst aber vergeblich

FESTSPIELE / MÉDÉE

31/07/19 Ein sexsüchtiger Weiberheld hat seine Ehefrau, die Mutter seiner zwei Söhne, der er noch dazu Leben und Karriere verdankt, brutal „entsorgt“ und des Landes verweisen lassen. Die nächste Gattin, reines Frischfleisch, betrügt er noch vor der Hochzeit mit Nutten daheim und im Puff. Plötzlich fängt dieser Sch...-Kerl über das „Goldene Vlies“ zu faseln an. Ein Fall für die Krisen-Intervention der nächstgelegenen Nervenklinik.

Von Heidemarie Klabacher

Am Dienstag (30.7.) hatte Luigi Cherubinis Oper Médée im Großen Festspielhaus Permiere mit der stimmlich und darstellerisch grandiosen, bewegenden und rundum überzeugenden russischen Sopranistin Elena Stikhina in der Titelpartie. Médées Freundin und Vertraute, Neris, gibt ebenso überzeugend die ebenfalls russische Mezzospranistin Alisa Kolosova. Médées junge Rivalin, die ohnehin von Anfang an kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache hat, verkörpert mit Lebendigkeit und sängerischer Strahlkraft die italienische Sopranistin Rosa Feola. Den charakterlich geradezu abstoßend angelegten Jason dieser Neuproduktion singt mit mehr Kraft als Substanz der tschechische Tenor Pavel Černoch. Gerne mehr gehört, als Cherubini dem Créon seiner Antiken-Oper zugesteht, hätte man vom ukrainischen Bassisten Vitalij Kowaljow.

Thomas Hengelbrock leitet die Wiener Philharmoniker genau wie man es erwartet hat: mit feinsinnig analysierender Verve jeder Feinheit, jeder Emotion, Farbe verleihend. Nur leider ist in Luigi Cherubinis Oper Médée – auf die Dramatik des Tragödienstoffes gerechnet – erstaunlich wenig packend vertonte und musikalisch ausgemalte Emotion aufzuspüren. Wäre diese Médée besser geeignet für eine der – so erfolgreichen und heißgeliebten – konzertanten Raritäten-Aufführungen der Festspiele? Auch und schon gar nicht! Weil eben musikalisch außer ein paar dräuenden Unheilswolken nicht viel drin ist. Thomas Hengelbrock und die „Wiener“ haben mit ihrer lebendigen Lesart die Partitur ohnehin bis zum letzten Blutstropfen ausgequetscht. Nur ist – bei allem Blutbad im Stoff  wenig Blut und Glut in der Musik.

Und die Szene gibt dem Opern-Leichtgewicht den Rest. Regie führt Simon Stone auf der mehrstöckigen Bühne von Bob Cousins mit vielen gesichtslosen Zimmern wie aus dem Möbelhauskatalog und in den ebenso modern beliebigen Kostümen von Mel Page. Was will man denn dem Publikum groß erklären, angesichts der ohnehin überwältigenden Tragödie zwischen der „Barbarin“, die dem griechischen „Helden“ geholfen und für diesen gemordet, die Familie verraten und die Heimat verlassen hat – und dann so brutal „entsorgt“ wird.

Der Mythos/das Drama von Euripides sind um ein vielfaches differenzierter, als diese geradezu plumpe „Aktualisierung“ und Übertragung ins Schicki-Micki-Nutten-Milieu. Dass bei aller Liebe „Fremdheit“, einander fremd sein und und einander noch fremder werden, eine Hypothek sein kann, die durch nichts in der Welt aus dieser zu schaffen ist – also wahrer Tragödien-Stoff – kommt in dieser banalen Bebilderung nicht einmal als Denkoption an die Oberfläche.

Bebildert freilich wird hübsch und gnadenlos realistisch mit Videoeinspielungen aus der Umgebung Salzburgs wo Jasons ihre Villa hatten. Salzburg ist überhaupt Hauptdarsteller, jede Szene im Video kann man genau orten – und so weiß man auch ganz genau, dass „dieses“ Stiegenhaus (über das Médée mit den Kindern nach den Morden an der Rivalin und dem Schwiegervater flieht) nicht im Nebenhof des früheren „Republic“ endet. Hinter der Tür, bei der sie hinauskommen, ist nämlich die Bühne... Auf solche Banalitäten reduziert sich alle Reflexion über diese Regie.

Wenn Jason, zwischen Puff und Nutte im eigenen Schlafzimmer, dann plötzlich über das Goldene Vlies zu singen anfängt, möchte man nur die Rettung holen. Da ist einer am Durchdrehen...

Toll ist die Telefonszene, der finale Ehestreit, bei dem Médée im Internet-Cafe in Tiflis sitzt. Bewegend auch ist die letzte direkte Begegnung des Paares an einer Haltestelle. Natürlich mit Salzburger Linien-Netzplan im Wartehäuschen. Sehr wichtig im Argonauten-Mythos. Statt der französischen Dialoge werden SMS geschickt. Das ist sehr gut gedacht und gemacht und erspart dem Publikum viel. Die zentrale Idee von Regisseur Stone, die verzweifelte Vielfach-Mörderin, auch der eigenen Kinder, auf ein Migrationskrisen-Opfer zu reduzieren, verhöhnt Medea wie Médée und ist geradezu billig in unseren Tagen. Für diese so respektlose wie simple Banalisierung hätte man Cherubinis Oper nicht aus dem Staub der Operngeschichte holen müssen. Wozu einen Mythos inszenieren, wenn man der Kraft des Mythos misstraut?

Fünf weitere Aufführungen ab Sonntag (4.8.) - www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: SF / Thomas Aurin