Melancholie als trotzige Antwort an die Zukunft

FESTSPIELE / WIENER PHILHARMONIKER / BLOMSTEDT

19/08/18 Wahrscheinlich konnte einer wie Sibelius wirklich trübsinnig werden: Vom finnischen Halbdunkel aus beobachtete er Anfang des 20. Jahrhunderts den Gang der neuen musikalischen Dinge – aber das war nicht seins. Also schrieb er die „Vierte“, aufs erste Hinhören vierzig Minuten Melancholie pur.

Von Reinhard Kriechbaum

Herbert Blomstedt hat den Wiener Philharmonikern in Salzburg dieses Werk vorgelegt, das sie zuvor noch nie gespielt hatten. Blomstedt darf das, denn zum jetzt 91jährigen (der in den knackigen Achtzigern stand, als er das erste Mal dieses Orchester dirigierte), haben die Wiener Philharmoniker in kurzer Zeit höchstes Vertrauen gefasst. Man konnte auch diesmal – am 18./19.8. im Großen Festspielhaus – Neugier, Aufmerksamkeit und Respekt für Blomstedts zielgerichtete, unaufdringliche kapellmeisterliche Sachlichkeit greifen.

Mit solch rar gewordener Lauterkeit also hinein in die Trantüten-Symphonie, die absolut keine solche ist. Die Schwarzgrau-Grundierung ist nämlich nur die eine Sibelius-Wahrheit. Die andere: Dieses Werk kann man genau so auf seine Zeit bezogen lesen wie eine Mahler-Symphonie. Mahler hat keck ironisierend die Holzbläser vorausgeschickt, um auch noch den wertkonservativsten Zeitgenossen das Ende einer Epoche einzubläuen. Sibelius arbeitet mit zurückhaltenderen Mitteln, und diese zeichnet Blomstedt unaufgeregt, aber mit Bestimmtheit nach. Er lässt keine von den vielen Streichermelodien unbeleuchtet, die da oft genug harmonisch ins Nirvana führen und uns unzweideutig mitteilen: Schluss ist's mit der Tradition.

Den Bratschen kommt da immer wieder eine besondere Rolle zu, und ein besonderer Satz ist der zweite, eine Art Scherzo, in dem Tanzmusik von früher, aber auch Aktuelleres anklingt und abstirbt. Wie viel Charme und zugleich Trostlosigkeit in der kurzen Walzer-Episode, in der die Flöten quasi mundtot gemacht werden! Das könnte von Mahler sein (die „Vierte“ wurde uraufgeführt in dessen Todesjahr) – aber wie Mahler scheute Sibelius die Konsequenz, er gab noch trotziger Melodie-schwelgerische Antworten als dieser in seinen Adagio-Sätzen.

Schade, dass der ORF dieses Konzert nicht aufgezeichnet hat, es wäre auf CD ein ganz eindrückliches Festspiel-Dokument geworden. Nicht nur in Sachen Sibelius, auch für Bruckner. Die „Achte“ hat Blomstedt bei seinem sträflich späten Salzburg-Debüt mit den Wiener Philharmonikern 2014 hören lassen, die „Siebente“ im Vorjahr. Diesmal die „Vierte“, und wieder eine Bruckner-Exegese der ganz besonderen Art. Der Schwede hat den Sinn für den besonderen Klang der Wiener Hörner, er weiß um die eigene Bruckner-Erfahrung des Orchesters. Und so begibt er sich quasi schnurstracks in den symphonischen Maschinenraum, um da und dort die Schrauben noch etwas nachzujustieren. Er nimmt Randstimmen in den Blick, schaut übrigens auch bei Bruckner ganz genau den Bratschen auf die Finger. Da darf man nichts zerreden: Es wurde ein faszinierendes Ganzes.

„Wenn ich merke, dass das Orchester dankbar für meine Anwesenheit ist, beflügelt mich das sehr“, sagte Herbert Blomstedt voriges Jahr in einem Interview zu seinem Neunziger. Er verließ das Philharmoniker-Pult merklich beflügelt.

Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli