Turnen kann die Gesundheit gefährden

ARGEkultur / OPEN MIND FESTIVAL / VERSUCH ÜBER DAS TURNEN

19/11/18 Eine geturnte Geschichte des Turnens. Welch grandiose Idee! Doch welch trostlose Umsetzung. Dass ein Konzept nicht von selber auch Kunst ergibt – dafür war die Produktion Versuch über ein neues Turnen im Rahmen des Open Mind Festivals in der ARGEkultur ein einschläferndes Beispiel.

Von Heidemarie Klabacher

Wer glaubt, dass körperliche Ertüchtigung in Reih und Glied unter paramilitärischen Bedingungen grundsätzlich der Gemeinschaftsbildung dient, war noch nie im Fitness-Studio in einer Zumba, Pilates oder sonst irgendeiner Fatburner–Stunde, in der magersüchtige Vierzigjährige verzweifelt versuchen, ihr dreißig- oder zwanzigjähriges Selbst zurückzutrainieren. Dies vorausgeschickt wird gerne zugegeben, dass Turnen in Reih und Glied der Gemeinschaftsbildung dienen und gemeingefährlich sein kann. Haben ja alle genug Leni Riefenstahl gesehen.

Aber die NS-Zeit war keineswegs der Schwerpunkt der Performance Versuch über ein neues Turnen der Gruppe Hauptaktion, „einer der spannendsten und relevantesten Performancegruppen“, wie ARGE-Leiter Sebastian Linz in seiner kurzen Begrüßung betonte. Hauptaktion seien „wissenschaftlich, dokumentarisch aber auch performativ.“ Für wahr.

Es wurde tatsächlich geturnt: Rumpfbeuge, Kniebeuge & Co wurden von acht Performerinnen und Performern in insgesamt vier, für das Publikum sich endlos hinziehenden Runden, wacker ausgeführt. „Wer nicht mithält, muss aussetzen, wer die kritische Fehlerzahl überschreitet scheidet aus.“

Wer zu viele Fehler machte, sprich die Synchronie der Bewegungen störte, bekam nicht nur Minuspunkte, sondern wurde vor dem Ausscheiden auch noch öffentlich bloß gestellt – mittels absurder Details, möglicherweise aus den realen Biografien der Rumpfbeugenden: „Dennis‘ Großmutter ist Nationalsozialistin. Geld nimmt er trotzdem von ihr. Dennis ist bisexuell.“

Turnen zeuge von der Fähigkeit des einzelnen, ein Teil des Ganzen zu werden, hieß es. „Wer scheitert, setzt seine Zugehörigkeit zur Nation aufs Spiel.“ Wer durchhält, bekommt die Staatsbürgerschaft. Was lagen da nicht für subtile Formen brennend aktueller Sozial- und Gesellschaftskritik allein in diesen absurden Bewertungen und Verurteilungen. Doch wie ermüdend war die Umsetzung. Wie brav wurde da performt und buchstabiert. Uninspiriert. Bar jeglichen Funkens Ironie. Bar jeglichen künstlerischen Anspruchs.

Und wie spannend wäre rein inhaltlich dieser knochentrocken referierte und laienhaft geturnte Streifzug durch die Geschichte des Turnwesens, der deutschen Turnfeste und Turntage gewesen: von 2017 – Turnfest als Symbol für die Buntheit und Offenheit der deutschen Nation – zurück bis zum ersten Schauturnen der Geschichte auf der Hasenheide zu Berlin. Napoleon sei da da grad‘ erst wenige Tage zuvor geschlagen worden. Turnvater Jahn spürte Aufwind, doch seine Turnbewegung wurde alsbald zusammen mit den Burschenschaften verboten.

1953 war besonders heikel, das Turnfest mit achttausend Mann war die erste Großveranstaltung in Deutschland nach dem Krieg, man sei bemüht gewesen, nicht zu martialisch zu wirken, „ein Neubeginn nach böser Zeit“. Gruppenturnen 1987 als Scheidewasser für die Elitesoldaten der DDR oder Zwangsturnen in der deutschen Schule in Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Burundi, Ruanda) anno 1896, wo man mit Ausfallschritt und Rumpfbeuge junge Schwarze vom „Wilden“ zum pflichtbewussten deutschen Soldaten drillen wollte. Turnfeste von Juden, Sozialisten, Frauen oder Soldaten - es geht immer um mehr, als körperliche Ertüchtigung. Turnen in der NS-Zeit kam natürlich auch vor, das Beispiel war ein Turnen der Nachfolge-Generation der deutschen Kolonisatoren 1938 in Lüderitz in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia.

All die vielen spannenden Informationen und Zusammenhänge um die Instrumentalisierung von körperlicher Bewegung wären in einem Vortrag gut untergebracht, das laienhafte Rumpfbeugen verzichtbar.

Bilder: ARGEkultur